„Wissen kann Angst machen“
Der Molekularbiologe Giulio Superti-Furga will „die Musik der Gene verstehen“. Ein Gespräch über die Chancen der Präzisionsmedizin, die Macht des Mikrobioms und die Angst der Österreicher vor der Gentechnik.
Die Presse: Sie haben bei den Alpbacher Technologiegesprächen gesagt, Fragen rund um die Präzisionsmedizin seien „wunderbar kompliziert“. Was genau war gemeint? Giulio Superti-Furga: Jeder von uns ist das Zusammenspiel von zweimal 23.000 Genen in verschiedenen Varianten. Es ist wie eine eigene Musik, die dadurch entsteht. Diese hängt aber nicht nur von den Genen ab, sondern auch von der Umwelt und der Geschichte unseres Lebens. Wir können nie die gleiche Musik spielen: Ich bin heute anders als morgen und anders als noch vor einigen Tagen, weil ich anders gegessen und anderes erlebt habe. Das spiegelt sich in den Genen wider. Das alles ist für eine Herzzelle ein bisschen anders als für eine Leber- oder Hirnzelle oder eine Immunzelle, sodass wir zusätzlich eine Musik haben, die wir das Zusammenspiel der verschiedenen Organe und Zelltypen nennen können. Daher dieses wunderbare Komplexe.
Dazu kommt das Mikrobiom, die Gesamtheit aller Mikroorganismen, die auf und in uns leben. Das ist genetisch gesehen ungefähr so komplex wie wir selbst. Es sind ja 300 verschiedene Spezies von Bakterien, dazu kommen Viren und Pilze. Sie bilden eine Gemeinschaft, die sich ändert, abhängig vom Lebensstil, aber auch davon, wo wir sind. Ich habe als gleiche Person in Südamerika ein anderes Mikrobiom, als wenn ich in Indien bin. Und ich werde nie mehr das gleiche Mikrobiom haben wie jetzt gerade, weil sich alles ein bisschen verändert. Es gibt außerdem einen Austausch mit dem Partner, der Familie, Kollegen bei der Arbeit, zum Teil auch mit den Haustieren, etwa wenn wir einen Hund haben.
Personalisierte Behandlungsmethoden werden gern als Revolution in der Medizin bezeichnet, tatsächlich handelt es sich weniger um einen plötzlichen Umbruch als um einen sehr langen Weg. Wo steht man derzeit auf diesem? Es gibt einzelne Blutkrebsarten, die schon jetzt anhand genomischer Merkmale behandelt werden. Das heißt nicht, dass man in jedem Fall ein spezifisch geeignetes Mittel hat. Es heißt, dass man aus Erfahrung weiß, dass bei dieser genetischen Veränderung eine bestimmte Behandlung vorteilhaft ist. Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass in zehn Jahren alle Blutkrebsarten gezielt und genomspezifisch behandelt werden.
Was heißt das dann konkret für Patienten? Wenn jemand erkrankt, wird das Genom des Tumors sequenziert? Genau, es wird mit nicht erkranktem Gewebe verglichen. Anhand der Veränderungen wird dann eine Behandlung vorgeschlagen. Was bereits passiert: Wir arbeiten gemeinsam mit Medizinern an der sogenannten Pharmakoskopie. Mit dieser Methode können wir an den Blutzellen des Patienten im Labor ungefähr 120 verschiedene Medikamente testen. Um dabei künftig noch zielgerichteter zu sein, gibt es nicht nur die Dosis und die Häufigkeit der Behandlung, sondern auch die Möglichkeit, Medikamente zu kombinieren.
In der Onkologie ist man offenbar am weitesten. Gibt es andere Bereiche, in denen die Präzisionsmedizin ähnlich fortgeschritten ist? So fortgeschritten wahrscheinlich nicht. Aber auch seltene Erkrankungen mit einer chronischen Entzündungsbasis können sehr personifiziert behandelt werden. Auch bei metabolischen Erkrankungen wie Diabetes wird man relativ spezifisch eingreifen können. Wir glauben, dass Stoffwechselerkrankungen in Zukunft mit ähnlicher Präzision therapiert werden können wie Krebs. Wo wir gute, aber sicher nicht genügend gute Fortschritte gemacht haben, ist bei Infektionen. Auf der einen Seite gibt es das Problem, dass immer mehr resistente Bakterien vorkommen. Auf der anderen Seite gibt es eine Anzahl von Viren, für die wir noch keine spezifische Therapie haben.
Welche Krankheiten stehen im Fokus der Forschung am Cemm? Wir beschäftigen uns seit einiger Zeit mit Diabetes. Zwei Forschungsgruppen haben gemeinsam die erste detaillierte Kartierung der Bauchspeicheldrüse erstellt. Mittels Pharmakoskopie ist es gelungen, dass austherapierte Patienten mit verschiedenen Blutkrebsarten länger gelebt haben. Wir machen jetzt auch sehr viele Fortschritte im Verständnis, wie Medikamente in unseren Organismus und unsere Zellen gelangen. Wir haben eine Entdeckungsmaschinerie kreiert, eine Reihe von Technologien, um die ungefähr 1000 verschiedenen Transporter zu verstehen. Sie schleusen Nährstoffe, Mikroelemente, Metalle, Vitamine aus der Nahrung und der Umwelt in den Körper. Aber welche Transporter was transportieren, verstehen wir noch viel zu wenig. Bis jetzt hat man immer gesagt: Hauptsache, ein Medikament funktioniert. Wir denken, dass wir sehr viel präzisere Medikamente machen könnten, wenn wir den Schlüssel finden, wieso bestimmte Moleküle in bestimmte Zellen hineinkommen und andere nicht.
Wo stehen Sie in der Mikrobiomforschung? Die Gruppe von Sylvia Knapp hat wunderbare Fortschritte gemacht in der Erstellung des Mikrobioms der Lunge. Sie wird gleich nach der Geburt aus der Luft und dem Schleim von Bakterien kolonisiert. Ein harmonisches Zusammenleben dieser Bakterien ist sehr wichtig. Das Mikrobiom in den Eingeweiden steht in Relation zu sehr vielen Erkrankungen. Wir glauben, dass viele Krankheiten vom ständigen Dialog zwischen dem Mikrobiom und unserem Körper abhängen: auch neurologische und metabolische und Krebs.
Antibiotika können dann auch negativ wirken? Ja, wir können davon ausgehen, dass in Ländern, wo sehr viele Antibiotika verabreicht werden oder wo die Menschen sehr viele Antibiotika über Fleisch und andere Lebensmittel zu sich nehmen, wir in vollkommenem Unwissen größte Turbulenzen verursachen, die Monate, vielleicht ein Leben lang anhalten können. Studien zeigen, dass ein durch einen Antibiotikakrieg durchgewirbeltes oder zerstörtes Mikrobiom nicht so einfach in der ursprünglichen Form wiederherzustellen ist. Wir gehen davon aus, dass Vielfalt sehr wichtig ist. Urmenschen oder solche, die vollkommen natürlich leben, haben eine viel größere Vielfalt, zivilisierter lebende eine geringere Vielfalt des Mikrobioms.
Das bedeutet? Wenn man überlegt, mit wie viel Liebe und Sorgfalt wir im Weinbau, beim Brühen toller Biere oder beim Brotbacken regional spezifische Gemische von Mikroorganismen nutzen, so wird es künftig auch eine Kunst werden, Menschen zu helfen, optimale Mikrobiomzusammenstellungen zu erreichen. Vielleicht werden die einen eher mit einem ruhigen Lebensstil vereinbar sein, andere werden unserem Leben mehr Pep geben – ich glaube, da werden wir einiges erleben. Etwa auch gene-
(56) ist wissenschaftlicher Direktor des Forschungszentrums für Molekulare Medizin (Cemm) der Akademie der Wissenschaften und Professor für Molekulare Systembiologie der Med-Uni Wien. Seit 2017 ist der geborene Italiener Mitglied des Europäischen Forschungsrats. Für das Projekt „Genom Austria“ließ er als Erster sein Genom sequenzieren und veröffentlichen – eine breitere Realisierung scheiterte an fehlender Akzeptanz und Finanzierung. tisch manipulierte Bakterien, das ist sicher eine ethische Grenzfrage. Manche sagen, wir werden aus dem Mund gut riechen, weil die Bakterien dort wohlriechende Stoffe produzieren. Wichtiger ist freilich, dass man gesunde Zähne hat oder einen Stoffwechselmangel wettmachen kann usw. Da wird viel passieren.
Sie arbeiten am Cemm eng mit Pharmafirmen zusammen. Wie gelingt es, Abhängigkeiten zu vermeiden? Ich habe fünf Jahre lang in einem Biotech-Unternehmen gearbeitet und sehr viel mit Pharmafirmen zu tun gehabt. Ich kenne die Tricks und die Gefahren, die damit verbunden sind. Wir machen keine Auftragsforschungsforschung, nur partnerschaftliche Forschung. Das bedeutet, dass wir unsere Freiheiten behalten, die Themen angeben, aber auch, dass wir über diese Kooperationen Dinge machen können, die sonst nicht gingen. Kriterium ist immer: Es muss wissenschaftlich interessant sein.
Also nicht: Wer das Gold hat, macht die Regeln? Ich finde es sehr wichtig, dass die akademische Welt mit der Industrie zusammenarbeitet – in vollem Respekt der jeweiligen Kompetenzen und Eigenschaften. Das klappt sehr gut. Wir fühlen uns weder bedroht noch abhängig. Es ist keine Notlösung, es ist gewollt. Ich habe immer gesagt, es kann nicht sein, dass wir medizinisch relevante Forschung machen und die Pharmafirmen einen Bogen um uns machen. Das wäre Elfenbeinturmdenken und inkompatibel mit unserer gesellschaftlichen Aufgabe.
Wie geht es dem von Ihnen initiierten Projekt „Genom Austria“, in dem Freiwillige ihr Genom entschlüsseln lassen können. Wie viele haben sich schon beworben? Angemeldet haben sich viele, aber wir haben nur 20 gemacht, weil wir trotz unzähliger Versuche keine Mittel bekommen haben.
Wie viele wollten mitmachen? Mehr als 1000. Wir sind natürlich sehr enttäuscht. Es ist ein Paradebeispiel für ein multidisziplinäres Projekt, die Hälfte der Beiträge wäre aus den Geisteswissenschaften gekommen: für eine umfassende Bestandsaufnahme, was Österreich im Jahr 2018 ausgemacht hat, genomisch, aber auch verbunden mit den geografischen und kulturellen Regionen, Dialekten, Traditionen. Es ist schade, dass man das nicht unterstützt hat.
Hat das auch zu tun mit der noch immer sehr verbreiteten Angst vor der Gentechnik? Sicher sehr viel. Irgendetwas ist sehr, sehr schiefgelaufen in der Kommunikation der Gentechnik in der Vergangenheit. Es hat zu tun mit eugenischen Nazi-Vorstellungen, mit Angstargumenten für Rassismus – obwohl wir wissen, dass es zu Argumenten gegen Rassismus führen wird, weil wir alle „Mischlinge“sind, weil wir beweisen können, dass es so etwas wie einen Ursprungsösterreicher wahrscheinlich gar nicht gegeben hat. Die Rasse gibt es genetisch gar nicht. Wir sind Mosaike aus vielen wunderbaren Menschen. Es gibt wissenschaftliche Gründe, sich darüber zu freuen, weil sich die Chance, dass sich Erkrankungen im Genom festsetzen, verringert.
Verstehen Sie die Angst der Menschen? Ja, darum haben wir Programme an Schulen durchgeführt etc. Die Menschen werden sich mit ihren Genomen befassen müssen, auch philosophisch. Es wird nicht möglich sein zu sagen: Ich will das nicht wissen, weil unser medizinisches System wird darauf basieren. Das ist keine Zukunftsvision, es passiert schon.
Stößt man nicht schnell an Fragen der Ethik, wenn jemand etwa gar nicht wissen will, ob er in 15 Jahren an Darmkrebs erkrankt? Natürlich. Aber das ist identisch mit der Vorstellung: Ich will nicht in den Spiegel schauen, um zu wissen, dass ich schon Falten habe.
Geht es darum, dass man – ob gegen Falten oder Darmkrebs – noch etwas tun könnte? Nicht nur. Wissen kann zunächst einmal Angst machen, ist aber immer der Ignoranz vorzuziehen. Die Vorstellung, dass andere über mich mehr wissen als ich, ist nicht günstig – soziale Medien wie Google oder Facebook machen das jetzt schon. Möchten wir das Gleiche mit dem Genom, oder wollen wir das Sagen haben?
Wollen Sie die Projektidee wieder aufgreifen? Vielleicht unter anderen Umständen. Es war kein rein biomedizinisches Projekt – absichtlich, weil wir nicht die Mittel haben, um mit Genomprojekten zu kompetieren, die Hunderttausende von Menschen erfassen wie in England, China, den USA und Russland. Wir wollten ein Projekt, das multidisziplinär betont, dass die genomische Integration in Österreich eine neue Dimension erreicht. Alpbach war vor 100 Jahren sicher weniger durchmischt als jetzt, aber es wird in 100 Jahren noch durchmischter sein. Diese Bestandsaufnahme wäre spannend gewesen.
Was treibt Sie persönlich bei Ihrer Arbeit an, was motiviert Sie? Das Tollste an meinem Beruf ist zu wissen, dass man in bestimmten Bereichen an die Grenze des Wissens gestoßen ist. Vor uns gibt es Neuland, das noch nicht kartiert, noch nie betreten worden ist. Den Studenten sage ich: Das „Red-BullMagazin“ist wunderbar, aber das geistige Erklimmen von Schluchten und Höhen ist wirklich Extremsport, weil man dort einen Adrenalinschuss, eine wahnsinnige Motivation erlebt, dadurch, dass das noch niemand in dieser Form gefunden hat.