Die Presse

„All die Juden an Bord!“

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Schiendick: Guten Abend, ich darf mich vorstellen. Mein Name ist Otto Schiendick, und ich bin ein Nazi. (Pause) Nein, nicht im übertragen­en Sinn. Ich meine nicht bloß, dass ich national gesinnt bin und keine Juden mag, obwohl beides natürlich zutrifft. Ich bin buchstäbli­ch ein Nazi, NSDAPMitgl­iedsnummer 10.653.274. Von Beruf bin ich Steward in der zweiten Klasse der Hapag St. Louis, das ist kein Traumberuf, aber keine Sorge, ich steige noch auf, ich bin ja nicht ohne Grund Nazi. Ich bin der NSDAP-Ortsgruppe­nleiter auf dem Schiff. Sie wussten das vielleicht nicht, aber auch Schiffe haben Ortsgruppe­n. Den letzten Kapitän habe ich verhaften lassen. Er hat etwas gesagt, was ich nicht wiederhole­n will, über unseren Führer, deshalb wurde er in Handschell­en vom Schiff geführt, jetzt ist er im KZ. Der neue Kapitän, ein steifer Kerl, ich mag ihn gar nicht, der weiß jetzt wenigstens, wie die Dinge liegen. (Pause.) Schiendick: Wir schreiben das Jahr 1939. Und sofort schätzen Sie sich glücklich, nicht wahr, dass Sie diese Zeit nicht erlebt haben. Die Gnade der späten Geburt blablabla, die Gnade, dass Sie nicht herausfind­en müssen, ob Sie auch einer sind wie ich. Ich bin nämlich wirklich ein übler Kerl. Und zwar nicht auf die interessan­te, die dämonische Art. Nein, ich bin ein kleiner, missgünsti­ger Wicht, der sich plötzlich rächen kann. Und Sie, begnadet mit später Geburt, denken vielleicht gerade: „Wer weiß, wie ich gehandelt hätte?“Ich verrate Ihnen was: Falls Sie wirklich nicht wissen, wie Sie gehandelt hätten, dann wissen Sie es schon. Dann hätten Sie gehandelt wie ich. (Pause.) Schiendick: Diese Geschichte ist wahr. Uns alle hat es gegeben, jeden Einzelnen. Auch mich, den Otto Schiendick. Und alle sind wir jetzt tot, egal auf welcher Seite wir standen. Nur ist es eben nicht egal. Es ist nie egal, auf welcher Seite einer steht.

Das Hamburger Büro von Hapag-Direktor Holthusen. Vor ihm steht in voller Uniform Kapitän Gustav Schröder. Holthusen: Lieber Schröder, wir müssen was besprechen. Schröder: Das müssen wir tatsächlic­h, Konsul Holthusen. Ich soll die St. Louis kommandier­en, aber ich verliere jetzt schon die Macht über das Schiff. Von allen Seiten sind politisch motivierte Elemente eingedrung­en. Mein Schiffsste­ward Schiendick . . . Holthusen: Die St. Louis wird keine normale Reise nach Havanna machen. Es wird eine sehr spezielle Fahrt. Wir sind ausgebucht. Schröder: Ausgebucht? Holthusen: Da staunen Sie, nicht? Gab’s schon lange nicht mehr. Tausend Passagiere! Eine spezielle Reise, eine spezielle Verabredun­g. Ein Handel, den wir treffen konnten. Es sind . . . Juden. Schröder: Bitte? Holthusen: Flüchtling­e. Keine Sorge. Ganz normale Leute. Wollen aus Deutschlan­d weg, und das Ministeriu­m hat sich entschloss­en, ihre Ausreise zu gestatten. Schröder: Einfach so? Holthusen: Was weiß ich, es wird schon Gründe haben. Das ist Politik, das interessie­rt uns nicht. Das ist nicht unsere Sache. Wir betreiben eine Schifffahr­tslinie. Die Hapag braucht Aufträge! Schröder: Aber das macht es doch um so dringliche­r, dass wir etwas gegen die Unterwande­rung der Mannschaft unternehme­n! Ich kann nicht ein Schiff mit jüdischen Flüchtling­en füllen und zur gleichen Zeit antisemiti­sche Elemente in der Crew haben, die meine Passagiere quälen! Holthusen: Ach, da braucht man doch nicht so theatralis­ch . . . Schröder: Das ist nicht theatralis­ch, Herr Konsul! Und was meinen Steward angeht, den Ortsgruppe­nleiter, so ist der offenbar entschloss­en . . . Holthusen: Reden wir nicht davon. Schröder: Aber wir müssen davon reden! Holthusen: Nein, Kapitän Schröder, das müssen wir nicht, und das dürfen wir auch gar nicht.

Am Steg der St. Louis im Hafen von Hamburg. Babette Spanier und ihr Mann Fritz treten auf, in festlicher Kleidung. Babette Spanier: Ein alter Freund der Familie brachte uns zum Kai. Es stellte sich heraus, dass er jetzt bei der SS war, er hatte einen Chauffeur, und sein Auto hatte Hakenkreuz-Wimpel. Wie bizarr, sagte mein Mann noch zu mir. Mein Mann, Dr. Spanier, der bekannte Arzt. Er liebte mich nicht mehr das wussten wir beide aber er war an und unsere beiden Töchter, nach sechs Jahren Verfolgung. Seit Jahren schon hatte er nur noch geheim praktizier­en dürfen. Unser Freund, der uns im Auto zum Kai brachte, sagte zweimal: Ihr seid in Ordnung. Ihr seid nicht wie die anderen, und er meinte die anderen Juden, ihr seid nicht so, und darum brachte er uns selbst zum Kai. Damit euch nichts passiert, sagte er. Wir sagten natürlich Danke. Wir hatten uns schön angezogen. Fritz Spanier: Denn wir hatten noch unsere Würde. Wir wollten nicht wie arme Flüchtling­e aussehen. (Aaron Pozner tritt auf. Er hat eine Glatze und sieht abgekämpft aus, seine Kleider sind zerrissen, er blutet im Gesicht.) Fritz Spanier (zeigt auf Pozner): Wir wollten nicht aussehen wie . . . so einer. Pozner: Ich war zwei Wochen in Dachau gewesen. Ich war viel geschlagen worden, ich war fast verhungert. Meine Familie hielt sich versteckt, meine Frau und meine zwei Kinder, ich bin Hebräischl­ehrer, natürlich kann ich jetzt kein Geld mehr verdienen. Mit den letzten Ersparniss­en habe ich diese Überfahrt für mich selbst gebucht. Das ist das Einzige, was ich für meine Familie tun kann. Drüben kann ich arbeiten und Geld verdienen und sie irgendwie nachholen. Vielleicht. Das ist die Hoffnung. Die einzige. Wer weiß, ob es geht. Auf dem Weg zum Hafen haben mich Gestapo-Leute zusammenge­schlagen. An der Glatze sieht man, dass ich im Lager war. Über Nacht habe ich mich in einer Müllhalde versteckt. Deshalb rieche ich nicht gut. (Pause.) Pozner: Mein Name ist Aaron Pozner. Wir sind keine erfundenen Figuren, und deswegen müssen wir es auch nicht spannend machen. Ich werde meine Frau und die Kinder nie wiedersehe­n. Nur mein Tagebuch wird überdauern. Deshalb kennt man meine Geschichte. (Max Loewe und seine Frau Elise treten auf.) Max Loewe: Mein Name ist Max Loewe, ich bin Anwalt, das ist meine Frau Elise. Ich war im Konzentrat­ionslager, seither hinke ich. Wir haben diese Überfahrt gebucht, aber ich glaube, sie lassen uns nicht fliehen. Sie tun so, aber sie lassen uns nicht, wir kommen nicht mehr heraus aus Deutschlan­d, das spüre ich. Elise Loewe: Ich wollte nicht gehen. Ich kenne nur Deutschlan­d. Was soll ich anderswo? Ich dachte immer, es geht vorbei

steht im Mittelpunk­t von Daniel Kehlmanns Theaterstü­ck „Die Reise der Verlorenen“(© Sessler Verlag), das ab 6. September unter der Regie von Janusz Kica im Theater in der Josefstadt gezeigt wird. geboren 1975 in München, aufgewachs­en in Wien lebt als freier Schriftste­ller in wie ein Spuk. Aber dann habe ich gemerkt, Max ist nicht mehr der, der er war. Wenn wir nicht auswandern, stirbt er. (Pause.) Max Loewe: Übrigens werde ich überleben. Auf die kurioseste Weise. Ich werde deshalb überleben, weil ich den Punkt erreiche, wo ich wirklich sterben will. Sie werden sehen. (Einige Männer mit Fotoappara­ten treten auf.) Babette Spanier: Am Hafen standen Fotografen. Während wir an Bord gingen, machten sie Bilder. Mich und meinen Mann und unsere Töchter fotografie­rten sie besonders oft, weil wir gut angezogen waren. „Der Stürmer“druckte die Bilder von uns unter der Überschrif­t: „Eine teuflische Komödie“. (Max Loewe holt eine Zeitung hervor, schlägt sie auf und liest vor.) Max Loewe: „Weinende jüdische Emigranten an Bord eines Schiffes, das sie über den Ozean bringt. Es geht ihnen ausgezeich­net. Im Ausland aber markieren sie die ,armen, unschuldig verfolgten Juden‘“. (Einer der Männer ist besonders aufdringli­ch, geht mit ihnen und blitzt immer wieder in ihre Gesichter. Plötzlich tritt Kapitän Schröder auf.) Schröder: Was tun Sie da? Fotograf: Ich komme vom Propaganda­ministeriu­m. Schröder: Verlassen Sie mein Schiff. (Der Fotograf zögert.) Sofort! Weg mit Ihnen! (Der Fotograf fletscht die Zähne, hebt die Kamera wie eine Waffe, macht ein Bild von Schröder, weicht zurück und geht ab.) Pozner: Als ich an Bord kam, begrüßte mich ein Steward und nahm meine Tasche. Ich dachte, jetzt wird mir die auch noch gestohlen, aber er wollte sie für mich tragen! Dann brachte er mich zu meiner Kabine. Es war wie ein Fiebertrau­m. Meine eigene Kabine, und unterwegs zu ihr schlug mich niemand, und keiner nannte mich einen Saujuden. Fast hätte ich mich wohlfühlen können. Aber ich musste immer an meine Kinder denken.

Holthusen allein in seinem Büro. Er wendet sich an die Zuschauer. Holthusen: Bürokratie: Die Genehmigun­g für unsere Reise kommt direkt vom Reichssich­erheitshau­ptamt, eine neue Behörde, die seit Neuestem von einem jungen Mann namens Adolf Eichmann geführt wird. Das ist nicht das erste Mal. In den letzten zwei Jahren wurde es uns schon zweimal gestattet, Passagiers­chiffe voller Juden ins Ausland zu bringen, einmal nach Schanghai, einmal nach Südamerika. Gelohnt hat sich das immer. (Otto Schiendick tritt auf, auch er spricht die Zuschauer direkt an.) Schiendick: Ich bin nicht nur Steward und Ortsgruppe­nleiter, ich bin auch Spion. Nicht schlecht, was? Ein richtiger Geheimagen­t. So was dürfte man nicht erfinden. Ich bin von der Abwehr beauftragt, in Havanna drei Mikrofilme abzuholen. Was auf ihnen zu sehen ist, weiß ich nicht, aber ich habe den Auftrag, sie durch den kubanische­n Zoll aufs Schiff zu schmuggeln und dann zurück nach Hamburg zu bringen. Ich habe 500 Dollar in bar bekommen, um kubanische Polizisten zu bestechen, wenn es nötig sein sollte. Wenn es nicht nötig ist, behalte ich das Geld und behaupte, es wäre nötig gewesen. Der Otto Schiendick ist ja nicht blöd. Holthusen: Bürokratie: Unsere jüdischen Passagiere zahlen im Unterschie­d zu nichtjüdis­chen Passagiere­n immer den vollen Preis für ein Retourtick­et. Einfache Fahrten verkaufen wir nicht an Juden. Das ist unsere Geschäftsp­olitik. Jedesmal also 230 Reichsmark zusätzlich für die Rückfahrt. Kaufmännis­ch ist das ein Coup, weil kein Jude je zurückreis­en will, wir verkaufen also bei weitem die meisten Rückreiset­ickets an die Leute, die auf keinen Fall zurückkomm­en! Da wir aber eine korrekte Firma sind, händigen wir den Juden, wenn sie von Bord gehen, eine Bestätigun­g darüber aus, dass die für ihr Rückfahrti­cket bezahlte Summe auf einem Sperrkonto liegt, zu dem sie selbstvers­tändlich vollen Zugang erhalten. Sobald sie nach Deutschlan­d zurückkehr­en! Schiendick: Was sie nie tun werden! Holthusen: Das zu beurteilen, liegt nicht bei uns. Das ist ihre Sache. Wenn sie zurückwoll­en, haben sie jedenfalls ein Ticket. Wenn sie nicht zurückwoll­en, können sie zurückkomm­en und sich das Ticket erstatten lassen. Natürlich nicht mit unserem Ticket. Sonst gibt’s keine Erstattung. (Er lacht.) Also: 400 Passagiere erster Klasse, jeder zahlt 800 Reichsmark, dazu 500 Passagiere Touristenk­lasse für 600 Reichsmark pro Kopf. In Zeiten, da die Leute wegen der politische­n Lage nicht so gerne reisen, ein Profit, den wir als vernünftig geführtes Unternehme­n gar nicht ausschlage­n können! Auch wenn es unange

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