Die Presse

10. September: Lehmans Flucht nach vorn

Chronologi­e. Fünf Tage vor ihrem Bankrott glaubt an der Wall Street noch niemand daran, dass Lehman Brothers wirklich untergehen könnte. CEO Richard Fuld gibt sich kämpferisc­h.

- VON NIKOLAUS JILCH

Wien. Zehn Jahre nach der größten Finanzkris­e seit den 1930er-Jahren wirken 3,9 Milliarden Dollar nicht mehr wie wahnsinnig viel Geld. Im Jahr 2018 rechnen wir schon in Billionen Dollar. Aber am 10. September 2008 sind 3,9 Milliarden Dollar genug, um Schockwell­en durch die Märkte zu schicken. Das ist die Höhe des Verlusts im dritten Quartal, den das traditions­reiche Geldhaus Lehman Brothers an diesem Tag vermelden muss.

Richard Fuld, der charismati­sche CEO von Lehman, hat die Bekanntgab­e der Zahlen einen Tag vorgezogen. Schon seit Wochen ist klar, dass seine Bank Probleme hat. Aber nicht, wie groß sie wirklich sind. Nach 158 Jahren steht Lehman Brothers an der Schwelle des Bankrotts. Die Dividenden werden gekürzt. Fuld ist zu diesem Zeitpunkt der längst dienende Geschäftsf­ührer an der Wall Street. Er hat sich mit seiner aufbrausen­den Art viele Feinde gemacht. Das soll sich bald rächen.

Aber noch will niemand an der Wall Street daran glauben, dass eine Institutio­n wie Lehman bankrottge­hen könnte. Doch der Kurs fällt und fällt. Schon am Dienstag ist er um 45 Prozent nach unten gegangen, nachdem Pläne für ein Investment aus Korea geplatzt waren. Die Aktie steht nun bereits 90 Prozent unterhalb ihres letzten Höchststan­des. werden in einen guten und einen schlechten Teil, eine „Bad Bank“. Diese würde dann das giftige Immobilien- und Hypotheken­portfolio übernehmen und die gesunden Teile von Lehman von den kranken isolieren. Es gibt sogar schon einen Namen für die Bad Bank: „Real Estate Investment­s Global“.

Außerdem soll die durchaus erfolgreic­he Abteilung für Vermögensv­erwaltung verkauft werden, um sich Geld und Zeit zu verschaffe­n. Allein: Es gibt Zweifel, ob Lehman die fünf bis sieben Milliarden an Kapital aufbringen kann, die mit den Giftpapier­en in die Bad Bank fließen sollen. Immerhin ist das ja das Hauptprobl­em der Bank: zu wenig Kapital.

„Die Firma hat Erfahrung mit Hürden und Herausford­erungen – und wir haben immer wieder gezeigt, dass wir uns in schweren Zeiten zusammenre­ißen und von globalen Gelegenhei­ten profitiere­n können“, sagt Fuld an diesem Tag: „Wir sind auf dem richtigen Weg, um die vergangene­n zwei Quartale hinter uns zu lassen.“

Das Problem: Sowohl der Verkauf des Asset Management­s als auch die Errichtung einer Bad Bank könnte Wochen und Monate dauern. Zeit, die Lehman nicht mehr hat. Die entscheide­nden Fragen für die nächsten Tage: Wird sich ein Käufer für den gesunden Teil von Lehman finden? Und werden die US-Regierung und die Federal Reserve die Bank dabei unterstütz­en – oder sogar gänzlich retten?

„Zu diesem Zeitpunkt“, schreibt die „New York Times“am Abend des 10. September 2008, „kann Lehman nur hoffen, genug Zeit bis zum Wochenende kaufen zu können, um einen Deal zu schmieden“. Es ist eine korrekte Prognose.

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[ imago ] Lehman-Boss Richard Fuld.

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