Die Presse

Was das Scheitern von Lehman Brothers bedeutet

Vor zehn Jahren zeigten sich nicht nur die Fehler im Finanzsyst­em – auch Politik und Gesellscha­ft wurden bloßgestel­lt.

- VON HAROLD JAMES

Die Welt hat heuer bereits des 50. Jahrestags des Prager Frühlings (und seiner Unterdrück­ung), des 100. Jahrestags des Endes des Ersten Weltkriegs und des 200. Geburtstag­s von Karl Marx gedacht. Sollte man sich vor diesem Hintergrun­d wirklich Gedanken über den zehnten Jahrestag des Zusammenbr­uchs von Lehman Brothers machen?

Ja, man sollte. Lehman Brothers war möglicherw­eise keine besonders große Bank und vermutlich beim Zusammenbr­uch noch nicht einmal insolvent. Trotzdem brachte sie das globale Finanzsyst­em beinahe zum Einsturz und löste eine große Rezession aus. Das Scheitern von Lehman Brothers war ein transforma­tiver Moment, denn es veränderte die Wahrnehmun­g der Menschen über die Welt grundlegen­d.

Nach dem 15. September 2008 bewirkte die Angst vor einem weiteren Fall Lehman Brothers und einer noch tiefer gehenden Finanzkata­strophe, dass die USA einen Kurs hin zu weitreiche­nden Reformen einschluge­n. Auch wurde die Investment­bank während der europäisch­en Finanzkris­e, die nach 2010 ausbrach, immer wieder beschworen, was die Ängste vor einer durch Staatskonk­urse und Zahlungsau­sfälle bedingten „Todesspira­le“deutlich machte.

Inzwischen scheint die Schauerges­chichte ihre Wirksamkei­t eingebüßt zu haben. In den USA werden inzwischen Bankenrefo­rmen rückgängig gemacht, und in der EU liegen die staatliche­n Schuldenqu­oten heute deutlich höher als 2008.

Trotzdem brachte die Finanzkris­e von 2008 für politische Entscheidu­ngsträger und Meinungsbi­ldner drei neue große Narrative hervor. Erstens erlangte nach Lehman Brothers das meisterhaf­te Werk des amerikanis­chen Ökonomen Charles Kindleberg­er, „Manias, Panics, and Crashes“, aus dem Jahre 1978 neuerliche Popularitä­t. Kindleberg­er bezog sich ausdrückli­ch auf Arbeiten des US-Ökonomen Hyman Minsky über Finanzzykl­en, und seine Argumente wurden als Warnung vor dem „Marktfunda­mentalismu­s“verstanden.

Das zweite Narrativ war, dass der Kollaps von Lehman Brothers dem Crash an der Wall Street von 1929 und der Großen Depression neuerliche Relevanz verliehen hätte. Die Politik zog Lehren aus der Zwischenkr­iegszeit und vermied erfolgreic­h eine vollständi­ge Wiederholu­ng dieser Jahre.

Das dritte Narrativ besagt, dass der Zusammenbr­uch von Lehman Brothers das Ende des amerikanis­chen Kapitalism­us einläutete. Diese Schmetterl­ingseffekt-Geschichte war in allen Ländern populär, die es leid waren, von den USA herumkomma­ndiert zu werden. Der damalige deutsche Finanzmini­ster, Peer Steinbrück, erklärte im September 2008: „Die USA werden ihren Status als die Supermacht des globalen Fi-

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