System Orbán auf der Anklagebank
EU-Verfahren. Ungarns Regierungschef verärgert immer mehr seiner europäischen Parteifreunde – zuletzt auch Bundeskanzler Kurz. Flüchtet er nun ins rechte Eck zu Le Pen, Salvini und Strache?
Lang war man aufeinander zugegangen – mit Geduld auf der einen Seite und Kompromissbereitschaft auf der anderen. Doch nun wenden sich die EUInstitutionen, immer mehr EU-Regierungschefs und sogar Parteifreunde aus der gemeinsamen Parteienfamilie EVP von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban´ ab – zuletzt auch Bundeskanzler Sebastian Kurz. Das System Orban´ steht seit gestern auf der Anklagebank. Heute, Mittwoch, stimmt das Europaparlament über die Einleitung eines Verfahrens wegen Verstößen gegen die gemeinsamen europäischen Grundwerte (Artikel-7-Verfahren) ab, das bis zum Entzug des Stimmrechts im EURat führen kann. Für Orban,´ der nach Einwänden der EU-Kommission zu seiner Justizreform oder seinem Mediengesetz während der vergangenen Jahre immer wieder Kompromisse einging, ist die Schlacht bereits geschlagen. „Eine Mehrheit wird morgen gegen uns stimmen“, erklärte er bei einem kurzen Statement vor dem Europaparlament. „Sie werden ein Land und sein Volk verurteilen.“Weitere Kompromisse hätten bei so viel vorgefasster Meinung keinen Sinn mehr, so der Regierungschef. Hier werde die „Ehre Ungarns verletzt“.
Kritik auch aus der CDU
Zuvor hatten am Dienstag die Vorsitzenden der mit Ungarn befassten Ausschüsse des Europaparlaments ihre Statements abgegeben. Sowohl der Ausschuss für Bürgerrechte, Justiz und Inneres als auch der Haushaltskontrollausschuss, der Kulturausschuss, der Ausschuss für konstitutionelle Fragen und der Ausschuss für Gleichberechtigung empfahlen eine Verurteilung Ungarns. Selbst die aus der CDU stammende Vorsitzende des Haushaltskontrollausschusses, Inge Gräßle, empfahl das Strafverfahren. Sie prangerte Korruption und Misswirtschaft mit EU-Mitteln an. „Ungarn hat heute Züge einer staatlich gelenkten Wirtschaft.“Der zuständige Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, betonte, dass seine Institution die Bewertung des Europaparlaments teile.
Überraschend war zuvor auch Bundeskanzler Sebastian Kurz bei den ORF-Sommergesprächen auf Distanz zu seinem Parteifreund gegangen: „Es gibt keinen Kompromiss bei der Rechtsstaatlichkeit.“Die ÖVP-Abgeordneten unter der Leitung von Othmar Karas werden deshalb bei der Abstimmung im Europaparlament für die Einleitung des Strafverfahrens stimmen.
Ungarns Führung ließ über regierungsnahe Medien sofort Attacken gegen Kurz los (siehe Seite 3). Zur Verstimmung unter seinen Parteifreunden hat freilich Orban´ selbst beigetragen. Er sympathisierte in den vergangenen Monaten immer öfter mit rechtsnationalen Parteien. Sie werden nun auch im EU-Parlament für ihn stimmen. FPÖ-Delegationsleiter Harald Vilimsky lud ebenso wie sein Parteichef, Heinz Christian Strache, Orban´ ein, in die EU-Fraktion aus FPÖ, Front National, Italiens Lega und weiteren Rechtsparteien zu wechseln.
Sollte Orbans´ Partei Fidesz mit ihren elf EU-Abgeordneten aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) austreten, würde dies die rechte Fraktion deutlich stärken. Gemeinsam mit zusätzlichen Gruppen aus Polen und Schweden könnte sie nach der Europawahl im Mai 2019 sogar zur zweitstärksten Fraktion des EU-Parlaments aufsteigen. Die EVP dürfte laut bisherigen Umfragen allerdings auch dann noch stärkste Gruppe bleiben.
Was aber wird Ungarns Regierung, die seit 2010 mit Verfassungsmehrheit regiert, vorgeworfen? Der Bericht des Ausschusses für Bürgerrechte, Justiz und Inneres listet zahlreiche Fehlentwicklungen auf. Sie reichen von der Aushöhlung der Verfassung bis hin zur Diskriminierung von international finanzierten Nichtregierungsorganisationen. Als Beispiele nannte die niederländische Berichterstatterin Judith Sargentini das Vorgehen gegen die von George Soros gegründete Central European University (CEU) in Budapest, deren Betrieb nach wie vor gefährdet sei. Die Regierung verstoße hier gegen die akademische Freiheit. Es gäbe aber auch Verstöße gegen den Datenschutz durch die Veröffentlichung von Namen von Regierungsgegnern. Die Medienvielfalt sei zuletzt erneut durch die Übernahme des unabhängigen Fernsehsenders HirTV durch einen Freund Orbans´ beschränkt worden. Außerdem gebe es Korruption, Missbrauch von EU-Geldern und Günstlingswirtschaft. Dass Ungarns Regierung auch nicht vor einem Bruch der Grund- und Menschenrechte zurückschreckt, sei zuletzt durch den Entzug von Nahrung für Asylwerber belegt worden.