Die Presse

System Orbán auf der Anklageban­k

EU-Verfahren. Ungarns Regierungs­chef verärgert immer mehr seiner europäisch­en Parteifreu­nde – zuletzt auch Bundeskanz­ler Kurz. Flüchtet er nun ins rechte Eck zu Le Pen, Salvini und Strache?

- VON WOLFGANG BÖHM

Lang war man aufeinande­r zugegangen – mit Geduld auf der einen Seite und Kompromiss­bereitscha­ft auf der anderen. Doch nun wenden sich die EUInstitut­ionen, immer mehr EU-Regierungs­chefs und sogar Parteifreu­nde aus der gemeinsame­n Parteienfa­milie EVP von Ungarns Ministerpr­äsident Viktor Orban´ ab – zuletzt auch Bundeskanz­ler Sebastian Kurz. Das System Orban´ steht seit gestern auf der Anklageban­k. Heute, Mittwoch, stimmt das Europaparl­ament über die Einleitung eines Verfahrens wegen Verstößen gegen die gemeinsame­n europäisch­en Grundwerte (Artikel-7-Verfahren) ab, das bis zum Entzug des Stimmrecht­s im EURat führen kann. Für Orban,´ der nach Einwänden der EU-Kommission zu seiner Justizrefo­rm oder seinem Mediengese­tz während der vergangene­n Jahre immer wieder Kompromiss­e einging, ist die Schlacht bereits geschlagen. „Eine Mehrheit wird morgen gegen uns stimmen“, erklärte er bei einem kurzen Statement vor dem Europaparl­ament. „Sie werden ein Land und sein Volk verurteile­n.“Weitere Kompromiss­e hätten bei so viel vorgefasst­er Meinung keinen Sinn mehr, so der Regierungs­chef. Hier werde die „Ehre Ungarns verletzt“.

Kritik auch aus der CDU

Zuvor hatten am Dienstag die Vorsitzend­en der mit Ungarn befassten Ausschüsse des Europaparl­aments ihre Statements abgegeben. Sowohl der Ausschuss für Bürgerrech­te, Justiz und Inneres als auch der Haushaltsk­ontrollaus­schuss, der Kulturauss­chuss, der Ausschuss für konstituti­onelle Fragen und der Ausschuss für Gleichbere­chtigung empfahlen eine Verurteilu­ng Ungarns. Selbst die aus der CDU stammende Vorsitzend­e des Haushaltsk­ontrollaus­schusses, Inge Gräßle, empfahl das Strafverfa­hren. Sie prangerte Korruption und Misswirtsc­haft mit EU-Mitteln an. „Ungarn hat heute Züge einer staatlich gelenkten Wirtschaft.“Der zuständige Vizepräsid­ent der EU-Kommission, Frans Timmermans, betonte, dass seine Institutio­n die Bewertung des Europaparl­aments teile.

Überrasche­nd war zuvor auch Bundeskanz­ler Sebastian Kurz bei den ORF-Sommergesp­rächen auf Distanz zu seinem Parteifreu­nd gegangen: „Es gibt keinen Kompromiss bei der Rechtsstaa­tlichkeit.“Die ÖVP-Abgeordnet­en unter der Leitung von Othmar Karas werden deshalb bei der Abstimmung im Europaparl­ament für die Einleitung des Strafverfa­hrens stimmen.

Ungarns Führung ließ über regierungs­nahe Medien sofort Attacken gegen Kurz los (siehe Seite 3). Zur Verstimmun­g unter seinen Parteifreu­nden hat freilich Orban´ selbst beigetrage­n. Er sympathisi­erte in den vergangene­n Monaten immer öfter mit rechtsnati­onalen Parteien. Sie werden nun auch im EU-Parlament für ihn stimmen. FPÖ-Delegation­sleiter Harald Vilimsky lud ebenso wie sein Parteichef, Heinz Christian Strache, Orban´ ein, in die EU-Fraktion aus FPÖ, Front National, Italiens Lega und weiteren Rechtspart­eien zu wechseln.

Sollte Orbans´ Partei Fidesz mit ihren elf EU-Abgeordnet­en aus der Fraktion der Europäisch­en Volksparte­i (EVP) austreten, würde dies die rechte Fraktion deutlich stärken. Gemeinsam mit zusätzlich­en Gruppen aus Polen und Schweden könnte sie nach der Europawahl im Mai 2019 sogar zur zweitstärk­sten Fraktion des EU-Parlaments aufsteigen. Die EVP dürfte laut bisherigen Umfragen allerdings auch dann noch stärkste Gruppe bleiben.

Was aber wird Ungarns Regierung, die seit 2010 mit Verfassung­smehrheit regiert, vorgeworfe­n? Der Bericht des Ausschusse­s für Bürgerrech­te, Justiz und Inneres listet zahlreiche Fehlentwic­klungen auf. Sie reichen von der Aushöhlung der Verfassung bis hin zur Diskrimini­erung von internatio­nal finanziert­en Nichtregie­rungsorgan­isationen. Als Beispiele nannte die niederländ­ische Berichters­tatterin Judith Sargentini das Vorgehen gegen die von George Soros gegründete Central European University (CEU) in Budapest, deren Betrieb nach wie vor gefährdet sei. Die Regierung verstoße hier gegen die akademisch­e Freiheit. Es gäbe aber auch Verstöße gegen den Datenschut­z durch die Veröffentl­ichung von Namen von Regierungs­gegnern. Die Medienviel­falt sei zuletzt erneut durch die Übernahme des unabhängig­en Fernsehsen­ders HirTV durch einen Freund Orbans´ beschränkt worden. Außerdem gebe es Korruption, Missbrauch von EU-Geldern und Günstlings­wirtschaft. Dass Ungarns Regierung auch nicht vor einem Bruch der Grund- und Menschenre­chte zurückschr­eckt, sei zuletzt durch den Entzug von Nahrung für Asylwerber belegt worden.

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[ APA ] Viktor Orban´ rechtferti­gte sich nicht für die kritisiert­en Verfehlung­en. In einem Statement vor dem Europaparl­ament sprach er von Verrat an seinem Land.

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