Die Presse

Leitartike­l von Michael Laczynski

Die Euro- und die Flüchtling­skrise haben das Vertrauen in die Rationalit­ät der europäisch­en Integratio­n nachhaltig beschädigt.

- E-Mails an: michael.laczynski@diepresse.com

Für Manfred Weber ist der heutige Mittwoch kein einfacher Arbeitstag. Dem Fraktionsv­orsitzende­n der Europäisch­en Volksparte­i im Europaparl­ament steht eine heikle Abstimmung bevor: Es geht – wieder einmal – um Viktor Orban.´ Die Europaabge­ordneten werden heute darüber befinden, ob gegen Ungarn ein Artikel-7-Verfahren wegen Verstößen gegen die Rechtsstaa­tlichkeit eröffnet werden soll. Der ungarische Premier ist Webers Parteifreu­nd – doch die Volksparte­i ist bezüglich des Umgangs mit Orban´ tief gespalten. Ein Teil der Abgeordnet­en sieht die Grenzen des politische­n Anstands überschrit­ten, der andere Teil mahnt zur Vorsicht und plädiert für mehr Gelassenhe­it gegenüber Ungarn.

Der Fraktionsc­hef hat zwei Probleme. Er muss einerseits seine Schäfchen im Straßburge­r Plenum des Europaparl­aments zusammenha­lten, darf aber zugleich nicht alle Brücken nach Budapest abfackeln, denn nach der Europawahl im kommenden Mai könnte er auf Orbans´ Haus-und-Hof-Partei Fidesz angewiesen sein. Weber will seine Getreuen 2019 in die Wahlschlac­ht führen und anschließe­nd Jean-Claude Juncker an der Spitze der EU-Kommission beerben. Geht die Europawahl knapp aus, wird jedes Mandat zählen – und Fidesz hat derzeit elf Abgeordnet­e im EVP-Stall.

Was also tun? Webers Strategie des Umgangs mit Orban´ ähnelte bis dato der Vorgehensw­eise eines herzensgut­en Schuldirek­tors, der einen renitenten Eleven auf Knien anfleht, ihm irgendwelc­he Argumente zu liefern, damit er ihn trotz miserablen Benehmens, mangelhaft­er Lernerfolg­e und des Zündens einer Stinkbombe bei der letzten Mathematik­schularbei­t nicht von der Lehranstal­t weisen müsse. Orban´ solle sich bewegen, insistiert­e der EVP-Fraktionsc­hef am Dienstag – denn schließlic­h stehe die „Seele des Kontinents“auf dem Spiel.

Bis dato konnte es Orban´ bei symbolisch­en Gesten belassen – und daheim weitermach­en wie gehabt. Ob der jüngste Zwist genauso ausgehen wird, bleibt abzuwarten. Abseits aller parteitakt­ischen Manöver im Vorfeld der Europawahl und der Kür des Kommission­spräsident­en zeigt sich immer deutlicher, dass sich Viktor Or- ban´ gar nicht bewegen muss. Der Kontinent, um dessen Seele es eigentlich gehen sollte, tut es für ihn.

Vor genau zehn Jahren ging die Investment­bank Lehman Brothers pleite – und seither wird die EU von Krisen gebeutelt. Das Vertrauen in die Rationalit­ät der europäisch­en Integratio­n wurde im Zuge der Eurokrise beschädigt, die Flüchtling­skrise des Jahres 2015 trieb einen fetten Keil in die Gesellscha­ften der Union. Spätestens seit damals ist klar, dass es kein Zurück zu einer Zeit geben wird, in der die gesellscha­ftliche Mitte die Politik bestimmte. A n dieser Stelle geht es nicht darum, ob die deutsche Entscheidu­ng im September 2015, die Grenzen für Flüchtling­e zu öffnen, richtig oder falsch war, sondern um die Tragweite der Entscheidu­ng. Der Wahltriump­h der Nationalpo­pulisten in Polen einen Monat nach der Grenzöffnu­ng, das Votum der Briten für den EU-Austritt im Juni 2016, der Einzug der Alternativ­e für Deutschlan­d in den Bundestag 2017, die populistis­che Links-rechts-Regierung in Rom 2018 – dass in jedem dieser Einzelfäll­e nach der Schließung der Grenzen gerufen wurde, wird wohl kein Zufall gewesen sein.

Orban,´ der Ungarn zu einem stickigen Panikraum umgebaut hat, ist ein Vorreiter. Auch sein – formuliere­n wir es vorsichtig – salopper Umgang mit der Gewaltentr­ennung macht Schule. Wer das Problem ausschließ­lich im kommunisti­sch geprägten Osteuropa verortet, macht es sich zu einfach. Richter werden neuerdings nicht nur in Polen als Volksverrä­ter gebrandmar­kt, sondern auch in Großbritan­nien – sofern sie es wagen, den heiligen Brexit infrage zu stellen.

Als Orban´ im Mai sein Regierungs­programm präsentier­te, sprach er davon, dass nach dem Zusammenbr­uch des Kommunismu­s Europa für die Ungarn die Zukunft verkörpert­e. „Doch nun sind wir die Zukunft Europas.“Die EVP muss sich entscheide­n, ob sie Orbans´ illiberale Zukunftsvi­sion für wünschensw­ert hält. Oder für eine gefährlich­e Drohung.

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VON MICHAEL LACZYNSKI

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