Sir Brian Unwin: „Brexit ist ein katastrophaler Fehler“
Interview. Er war Thatchers härtester EU-Verhandler. Aber heute kämpft Sir Brian Unwin gegen die „verrückte“Trennung von Europa – weil er weiß, was auf die britische Wirtschaft zukommt.
Die Presse: Sie machen kein Hehl daraus, dass Sie gegen den Brexit sind. Ausgewogen ist ihr Urteil also nicht. Was legitimiert Sie trotzdem, unsere Leser zu diesem Thema zu informieren? Sir Brian Unwin: Dass ich beide Seiten gesehen habe. Ich verhandelte für Thatcher den „Briten-Rabatt“heraus, in einer langen Nacht in Fontainebleau. Später stand ich sieben Jahre an der Spitze der Europäischen Investitionsbank in Luxemburg. Das verschafft mir heute den nötigen Überblick.
Warum noch über den Brexit diskutieren? Wie Ihre Premierministerin Theresa May sagt: Er ist der „feierliche Wille” des Volkes, und wer ihn nicht respektiert, verrate die Demokratie. Also ehrlich, das ist absoluter Nonsens. Es gibt in unserer Verfassung keine Regelung zu Volksabstimmungen, wir sind eine repräsentative Demokratie. Dieses Referendum war ausdrücklich konsultativ und nicht verbindlich. Die Regierung musste das Ergebnis nicht umsetzen. Die Austrittsbefürworter führten eine Kampagne voll eindeutiger Lügen über die finanziellen Folgen. Die Mehrheit war knapp. Auf alle Wahlberechtigten gerechnet, stimmten nur 34,7 Prozent für den Austritt. Das ist völlig unzureichend für eine große Verfassungsänderung, die das Leben künftiger Generationen so massiv beeinflusst.
Aber bisher ist die britische Wirtschaft doch mit einem blauen Auge davongekommen... Manche Vorhersagen aus dem „Projekt Angst” sind nicht ganz eingetreten. Es gab keine Rezession. Aber es ist klar, dass die Wirtschaft gelitten hat. Vor der Abstimmung lagen wir bei der Wachstumsrate an der Spitze der Industriestaaten, nun am untersten Ende. Der Pfundverfall hat zu importierter Inflation geführt und die Kaufkraft geschwächt. Der durchschnittliche Haushalt hat 900 Pfund an Einkommen verloren, wie die Zentralbank soeben errechnet hat. Um ihren Konsum aufrechtzuerhalten, verschulden sich die Leute. Damit sinken Sparquote und Investitionen. Kein Unternehmer ist bereit zu investieren, wenn niemand weiß, wie es weitergeht. Der klassische Vorteil einer Abwertung, ein möglicher Exportboom, ist ausgeblieben. Das Leistungsbilanzdefizit ist gestiegen. Die Wirtschaft läuft also sehr schwach, und der Hauptgrund ist die Unsicherheit durch den Brexit.
Ein Hauptmotiv für „Leave”Wähler war, dass sie die Immigration aus Osteuropa stört. Die Regierung will sie drastisch reduzieren. Wozu führt das? Zu einem großen Arbeitskräftemangel. Gestern im Zug erzählte mir ein Immobilienentwickler, dass er ohne Arbeiter aus Rumänien nicht auskommt. Am stärksten betroffen wäre das Gesundheitswesen. Die Krankenhäuser sind auf qualifizierte Krankenschwestern und Ärzte aus der EU angewiesen. Die Bewerbungen von Krankenschwestern vom Kontinent sind um 96 Prozent gesunken. Schon heute gibt es im Sektor 107.000 nicht besetzte Stellen. Migranten aus der EU haben Jobs und zahlen Steuern. Sie sind keine Nettolast für die Volkswirtschaft.
„Die Kontrolle übers Land behalten“: Was ist daran so schlimm? Die Brexit-Betreiber hängen einer ideologischen Idee an, einer Illusion von Souveränität aus dem 19. Jahrhundert. Die Kontrolle können sie nur über das Land ihrer Fantasie behalten. In unserer modernen Welt hängt alles zusammen – und von Allianzen ab.
Im Juli hat May einen „Soft Brexit” vorgeschlagen. Ist das nicht ein gangbarer Kompromiss? Nein. Ein Großteil ihrer eigenen Partei hat Mays Plan als Verrat zurückgewiesen. Die Labour-Partei lehnt jeden Vorschlag ab, weil sie Neuwahlen will. Der Plan löst das nordirische Grenzproblem nicht, den entscheidenden Punkt jeder Vereinbarung. EU-Chefverhandler
(83) studierte in Oxford und Yale und arbeitete als hoher Regierungsbeamter in London. Im Streit um den „Briten-Rabatt“führte er Thatchers Verhandlungsteam an. Später leitete er die Zollbehörde und (bis 1999) die Europäische Investitionsbank in Luxemburg. In Wien hielt er am Donnerstag einen Vortrag in der Nationalbank. Barnier hält ihn für undurchführbar. Der Vorschlag ist also tot. Und es ist mir völlig unverständlich, wie May sagen kann: Entweder das oder gar kein Deal. Oder auch: Besser gar keine Vereinbarung als eine schlechte. Das ist absurd und stumpfsinnig. Denn zu „No Deal“sind sich, außer ein paar Extremisten, alle einig: Das wäre für die Wirtschaft katastrophal.
Warum? Wie soll man gleich vorteilhafte Freihandelsabkommen schließen, wenn man nicht mehr für 500 Millionen Menschen verhandelt, sondern nur mehr für 65 Millionen? Wie sollen wir bis dahin auf die Welthandelsorganisation setzen, wenn Trump sie vernichten will? Natürlich überlebt das Vereinigte Königreich, was auch immer passiert. Aber es würde viel ärmer.
Sie haben lange die Zollbehörde geleitet. Was wären denn die praktischen Folgen, wenn Großbritannien wieder Zölle nach den WTO-Regeln einheben muss? In den späten 80er-Jahren, mit dem Aufkommen des Binnenmarktes, habe ich hunderte Zollbeamte aus Dover und Nordirland abgezogen. Jetzt müssten 2000 neue Mitarbeiter rekrutiert und ausgebildet werden. Neue Kontrollen, neue Formalitäten, an einem Ort wie Dover, wo über 1000 Lkw jeden Tag aus der EU ankommen. Selbst wenn jeder Wagen nur zwei Minuten lang überprüft wird, ergibt das einen riesigen Stau. Und es würde sehr teuer: Mein Nachfolger rechnet mit Kosten von acht Mrd. Pfund, um volle Grenzkontrollen wiederherzustellen. Die Ironie dabei: Viele Brexit-Anhänger stehen der EU feindlich gegenüber, weil sie so viel Bürokratie mit sich bringt. Aber bei „no deal“müssen wir massiv Bürokratie aufbauen. Ein weiterer Unsinn.
Interessanterweise verzichtet der May-Plan auf den Marktzugang für Dienstleistungen. Ist das nicht ein Zeichen, dass die City of London als internationaler Finanzplatz allein stark genug ist? Bei einem harten Brexit oder einem Deal ohne Dienstleistungen (die 80 Prozent unserer Wirtschaft ausmachen) würde die City zwar nicht kollabieren. Sie hat viele andere Vorteile, wie Anwälte und Steuerberater. Die Prognose, dass dort 75.000 Jobs verloren gehen, dürfte übertrieben sein. Aber es wäre ein schwerer Schlag. Die meisten Banken haben Notfallpläne, um ihren Sitz oder Teile zu verlegen. Die stärkste Anziehungskraft hat nicht der Kontinent, sondern New York. Viele Banker sagen: Ich gehe viel eher nach New York als nach Frankfurt.
Beschränken sich die Folgen des Brexit auf wirtschaftliche Probleme Großbritanniens? Es geht mir nicht nur um mein eigenes kleines Land. Schauen Sie sich um: Wir haben einen expansiven, totalitären Staat in China, der Nahe Osten steht immer noch in Flammen, wir haben das größte Migrationsproblem seit dem Zweiten Weltkrieg. Und drüben im Weißen Haus sitzt dieser selbstgefällige, antidemokratische Zerstörer, der die EU als Feind ansieht. In so einer Zeit, wo Europa zusammenstehen sollte, die Union zu verlassen, ist verrückt. Der einzige, der darüber lachen kann, ist Putin. Ich bin sehr britisch, auf eine altmodische Weise, aber ich fühle mich auch als Europäer. Uns abzuspalten, ist ein katastrophaler Fehler.