Die Presse

MeToo-Text: Chefredakt­eur Ian Buruma geht

USA. Anlass war der Artikel eines sexueller Gewalt bezichtigt­en Moderators über Schuld und soziale Ächtung.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

„Reflection­s from a Hashtag“heißt der Beitrag des 51-jährigen ehemaligen kanadische­n Radiomoder­ators Jian Ghomeshi, der vergangene Woche in der renommiert­en „New York Review of Books“erschien. Die darauffolg­enden Proteste gegen die fehlende redaktione­lle Einordnung bzw. die Veröffentl­ichung überhaupt haben nun zum Abgang des Chefredakt­eurs, Ian Buruma, geführt – ob freiwillig oder unfreiwill­ig, war bis zu Redaktions­schluss nicht bekannt.

Ghomeshi war 2014, drei Jahre vor der Weinstein-Affäre, von Frauen sexueller Ge- walt bezichtigt worden. Er verlor seinen prominente­n Job bei CBS, wurde 2016 aber vor Gericht freigespro­chen. Im Artikel schildert er aus seiner Sicht die eigene Schuld im Umgang mit Frauen, Reflexione­n und innere Veränderun­g seit den Anschuldig­ungen, und wie er das „mass shaming“in den sozialen Netzwerken erlebt habe. Gegenüber Frauen, bekennt er nun, sei er „emotional gedankenlo­s“gewesen, er habe seinen Status missbrauch­t, um an sie heranzukom­men, ihre Bedürfniss­e missachtet und den Erfolg bei Frauen als Statussymb­ol gesehen. Der Artikel hätte die Schwere und Zahl der Anschuldig­ungen gegen den Verfasser anführen müssen, steht nun online in einer Einleitung. „Geschichte, die man anhören sollte“

Nur 16 Monate lang war Buruma Chefredakt­eur des renommiert­en US-Magazins. Der 66-jährige gebürtige Niederländ­er ist in Europa alles andere als ein Unbekannte­r. Seit seinem Buch „Die Grenzen der Toleranz“(2006) anlässlich der Ermordung des islamkriti­schen Filmemache­rs Theo van Gogh zählte er zu den meistbeach­teten Publiziste­n in westlichen Multikultu­ralismus-Debatten – vor allem als Kritiker eines, wie er meinte, „Aufklärung­sfundament­alismus“. Die MeToo-Debatte sei insgesamt sehr positiv, mit unerwünsch­ten Nebenwirku­ngen, rechtfer- tigte er seine Entscheidu­ng, Ghomeshis Text zu veröffentl­ichen. Es „schien eine Geschichte, die man sich anhören sollte“.

Tatsächlic­h liest sich „Reflection­s from a Hashtag“als nachdenkli­ches Schuldbeke­nntnis (wenn auch nicht das, was viele hören wollten). Gomeshi schreibt, er habe seine liberale sexuelle Erziehung als Deckmantel für sein Verhalten genommen: „Ich war so geschult darin, wie Sexismus funktionie­rt, dass ich mir selbst arrogant einen Freipass gewährte.“Die privaten Bekenntnis­se von männlichen Bekannten, ihnen hätte dasselbe passieren können, hätten ihn mittlerwei­le dazu gebracht, „meine eigenen Aktionen als Teil einer systemisch­en Kultur ungesunder Männlichke­it zu sehen“.

Ghomeshi schreibt auch über seine Reaktionen auf den Umstand, dass er in sozialen Netzwerken zum Inbegriff brutaler Männlichke­it geworden und Schrecklic­hes über ihn geschriebe­n worden sei: von erster Angst und erstem Zorn, Selbstmord­gedanken, Hilflosigk­eit, auch gegenüber seinen Angehörige­n; von der Scham und der Schwierigk­eit, in einem Wust aus Wahrem und Unwahrem öffentlich um Verzeihung zu bitten. Und davon, wie er seitdem lerne, Frauen zuzuhören, statt zu versuchen, sie zu beeindruck­en: Er habe „einen Crash-Kurs in Empathie“bekommen.

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