Das Getöse der Großstadt
Der Historiker Peter Payer hat ein Buch über die Geschichte des Hörens in Wien geschrieben. Er interessiert sich darin für jene Periode, in der die Stadt zur Metropole anwuchs – und lärmend Richtung Moderne aufbrach. Hinter der Auseinandersetzung mit dem
Historiker Peter Payer hat ein Buch über die Geschichte des Hörens in Wien geschrieben.
Das eintönige Brummen der Motoren ist omnipräsent. Aus einem roten Kleinwagen dröhnt ein schwerfälliger Bassrhythmus. In der Ferne überschlägt sich ein Folgetonhorn. In der Seitenstraße hört man durch geöffnete Fenster Geschirrklappern – und ist das nicht die sirenenhafte Stimme von Beyonce?´ So klingt Wien heute. Aber wie hörte sich die Hauptstadt hundert Jahre zuvor an?
Der Historiker und Stadtforscher Peter Payer ist der Frage nachgegangen, welche Geräusche den Alltag Wiens von 1850 bis 1914 prägten. In seinem jetzt erschienenen Buch „Der Klang der Großstadt“(Böhlau-Verlag, 313 S., 30 Euro) richtet er sein Hauptinteresse auf die unerwünschten urbanen Geräusche in jenem historischen Zeitraum, in dem Wien sich zur viertgrößten Metropole Europas mit über zwei Millionen Einwohnern entwickelte. Dazu beschreibt er den städtischen Hörraum zwischen den Innenbezirken, den Industriearealen, den Friedhöfen und Parks, den Märkten und Bahnhofsvorplätzen.
Payer zeichnet die Veränderung der urbanen Lautsphäre nach und verschränkt in dem Buch die Sound- mit der Stadtgeschichte. Er zeigt am Beispiel Wiens nicht nur, wie sich die Geräuschkulisse dazumal wandelte, sondern auch, wie diese Veränderungen von der Bevölkerung wahrgenommen wurden und welche Auswirkungen sie auf die Gestaltung des öffentlichen Raums hatten.
Antilärmverein gegründet
Um die Jahrhundertwende ärgerten sich viele prominente Intellektuelle über die Geräuschkulisse der Kaiserstadt, unter ihnen die Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal und Felix Salten: Das Peitschenknallen sei erbarmungslos und das Kutschergeschrei roh und rücksichtslos, das Gehupe der wenigen Autos störe und das Wimmern und Stöhnen der elektrischen Straßenbahn sei überlaut und quälend. Selbst Grammophonmusik aus geöffneten Fens- tern und das Teppichausklopfen erhitzte die Ruhe suchenden Gemüter. Wien galt als die nervöseste Großstadt überhaupt. Allerdings war die offene Feindseligkeit gegen städtischen Lärm zu dieser Zeit keineswegs ein lokales Phänomen: Von Deutschland aus formierte sich unter der Federführung des Philosophen Theodor Lessings eine Lärmschutzbewegung. 1908 legte er mit dem Buch „Der Lärm“eine regelrechte Kampfschrift gegen das Getöse der Großstädte vor. Er sah darin die „Rache, die der mit den Händen arbeitende Teil der Gesellschaft an dem mit dem Kopfe arbeitenden nimmt, dafür, daß er ihm Gesetze gibt“. Die kurze Zeit später gegründete Wiener Ortsgruppe von Lessings Antilärmverein, der das Recht auf Stille als bürgerliches Menschenrecht durchsetzen wollte, entwickelte sich jedoch nur zäh.
Straßenbelag als Unruhestifter
Der Bewegung wurde ambivalent begegnet. Während die einen das Bestreben des Antilärmvereins durchaus begrüßten, betrachteten andere seine Proponenten als verweichlichte Zeitgenossen, die sich dem Fortschritt der Zeit widersetzten. Der Lärm der Großstadt wurde zunehmend positiv besetzt und zu einem Zeichen von Modernität.
Payer erklärt das Scheitern der Lärmschutzbewegung in europäischen Städten mit deren Elitarismus: „In erster Linie war es wohl eine zu große Fokussierung auf bürgerlich-intellektuelle Bevölkerungskreise, ein zu elitärer Zugang, der das Entstehen einer Massenbewegung verhinderte.“Eine Ver- ankerung in der Arbeiterschaft sei so gut wie nirgends gelungen, und das, „obwohl gerade sie in ihrem Fabrikalltag de facto weitaus größeren Lärmbelästigungen ausgesetzt war“. Anstatt sich auf Ökonomie und Technik als Verursacher zu fokussieren, standen individuelle Lärmerzeuger am Pranger.
Die US-amerikanische Lärmschutzbewegung argumentierte im Unterschied dazu weniger philosophisch und klassenkämpferisch – und war letztendlich erfolgreicher. Payer: „Sie stellte Lärm als ineffizienten und unproduktiven Faktor dar und konnte somit deutlich besser mit seiner Gefahr für Entwicklung und Wohlstand argumentieren als Lessings kulturpessimistische Stoßrichtung.“Zudem wurden in den USA auch die Gefahren des Lärms für die öffentliche Sicherheit und Gesundheit sowie seine negativen Auswirkungen auf Kranke und Kinder hervorgehoben.
Als eine der wenigen großflächig wirksamen Maßnahmen gegen den Lärm in Großstädten etablierte sich nach und nach aber auch in Wien das geräuschlose Asphaltpflaster anstatt des holprigen Kopfsteinpflasters. Die automobile Fortbewegung hatte ihren idealen Untergrund gefunden. „Die Modernisierung Wiens verlangte neue Strategien im Umgang mit dem Lärm“, sagt Payer. „Diese sind – so meine These – im Wesentlichen bis heute aktuell.“
Digitalisierung fordert Ohren
Das Akustische ist nach wie vor zentraler Teil der urbanen Wirklichkeit. Die Forderung nach Ruhe im Klangbild einer Stadt gewinnt gegenwärtig wieder zunehmend an Bedeutung. Payer streicht die vergleichbaren zivilisationshistorischen Komponenten zum Wien der ausklingenden Kaiserzeit hervor. Seien es einst Industrialisierung und Mechanisierung gewesen, die zu einer Neuordnung der akustischen Umgebung führten, so strukturierten gegenwärtig Freizeitgesellschaft und Digitalisierung den Alltag akustisch neu: „Damals wie heute ist dies eine Herausforderung für unsere Ohren.“