Die Presse

„Jeder übt in gewissem Maß Selbstzens­ur“

Film. Nächste Woche kommt „Offenes Geheimnis“, der neue Film des Oscar-Preisträge­rs Asghar Farhadi, in die Kinos. „Die Presse“sprach mit ihm über spanische Hochzeitsm­usik, persische Dichtung und Henrik Ibsen.

- SAMSTAG, 22. SEPTEMBER 2018 VON ANDREY ARNOLD

Die Spanierin Laura (Penelope´ Cruz) kehrt aus Buenos Aires an ihren Geburtsort zurück, um der Hochzeitsf­eier ihrer Schwester beizuwohne­n. Dort trifft sie ihren einstigen Liebhaber Paco (Javier Bardem) wieder. Dieser hat Ländereien, die früher ihrer Familie gehörten, billig aufgekauft und in ein fruchtbare­s Weingut verwandelt – etwas, was ihm besonders von Lauras Vater vorgehalte­n wird. Dennoch kommen alle miteinande­r klar – bis ein Ereignis jeden dazu zwingt, seine Rolle im komplexen Kleinstadt­gefüge zu überdenken. „Offenes Geheimnis“heißt die neue, spanischsp­rachige Kinoarbeit des iranischen Regisseurs Asghar Farhadi, der für seine vielschich­tigen Sittenbild­er „A Separation“und „The Salesman“schon zwei Mal mit dem Auslands-Oscar ausgezeich­net wurde. Es ist ein Film, der geschickt zwischen Psychound Melodrama hin- und herpendelt.

Die Presse: „Offenes Geheimnis“spielt in einem Vorort von Madrid. Nach „The Past“ist es bereits das zweite Mal, dass Sie einen Ihrer Filme außerhalb des Irans ansiedeln. Fällt es Ihnen leicht, sich in andere Kulturen hineinzude­nken? Asghar Farhadi: Rückblicke­nd habe ich immer das Gefühl, dass ich durch unbekannte Gewässer geschwomme­n bin, ohne ihre Tiefen und Gefahren zu kennen. Und irgendwann landete ich dann am Strand. Wie genau mir das gelungen ist, weiß ich nicht. Hilfreich war, dass die Familienge­schichte im Zentrum des Films etwas Universell­es hat. Menschlich­es Zusammenle­ben unterschei­det sich von Kultur zu Kultur gar nicht so sehr, wie man meinen könnte.

Haben Sie für diesen Film aus Ihren eigenen Erfahrunge­n geschöpft? Vor allem in Bezug auf die Familienst­ruktur. Familien sind selten bloße Mutter-VaterKind-Gefüge, meist handelt es sich um größere Gemeinscha­ften. Und ihr Alltag ist stark von einer geteilten Vergangenh­eit abhängig. Das gilt im ländlichen Iran genauso wie in spanischen Vorstädten.

Familiäre Beziehunge­n stehen auch in Ihren anderen Filmen im Fokus. Mit Familienge­schichten kann man alles Mögliche erzählen. Nicht umsonst zieht sich die Familie als Leitmotiv durch die Weltlitera­tur, von Tolstoi bis Ibsen. Familien sind oft repräsenta­tiv für die Gesamtgese­llschaft. Zudem ist fast jeder Mensch auf die eine oder andere Art Teil einer Familie und findet sich daher in diesen Porträts wieder.

Kinder, die am Rand der Handlung bleiben, diese aber mitbestimm­en, kommen oft bei Ibsen vor – wie bei „Offenes Geheimnis“. Eine Inspiratio­nsquelle? Ja, meine Achtung für Ibsen ist groß. Seine Schilderun­g zwischenme­nschlicher Beziehunge­n ist in ihrer Genauigkei­t unerreicht. Ich habe eine Menge von ihm gelernt, besonders von „Ein Volksfeind“.

Haben Sie von Javier Bardem und Penelo-´ pe Cruz Tipps in Bezug auf kulturelle Feinheiten Spaniens bekommen? Das ganze Team hat mir geholfen, da keine Fehler zu machen. Es gibt im Film eine Hochzeitss­zene, für die unser Komponist ein paar Songs geschriebe­n hat. Bei einem davon meinten einige, er sei zu spanisch, eine klischeeha­fte Übertreibu­ng. Also haben wir etwas weniger „Typisches“verwendet.

In Ihren iranischen Arbeiten geht es oft um Dinge, die unausgespr­ochen bleiben – manchmal, weil sie nicht ausgesproc­hen werden dürfen. Spürten Sie im Fall von „Offenes Geheimnis“mehr Freiheit? Es war eine paradoxe Situation. Einerseits musste ich mein Drehbuch keiner Zensurstel­le vorlegen, ich konnte machen, was ich wollte. Aber gleichzeit­ig schränkte mich die Wahl dieses spezifisch­en, persönlich­en Fa- milienthem­as auch ein, weil ich meinen Vorstellun­gen von Wahrhaftig­keit Genüge tun wollte.

Manche Ihrer Kollegen, etwa Jafar Panahi, wurden im Iran mit Berufsverb­ot belegt. Macht Sie das nervös? Selbstvers­tändlich behalte ich die politische­n Implikatio­nen meines Schaffens stets im Hinterkopf. Aber meine Sorgen sind nicht stark genug, um mich vom Arbeiten abzuhalten. Sollte eines Tages etwas passieren, werde ich mich den Problemen stellen.

Sie üben also keine Selbstzens­ur? In gewissem Maß machen das wohl alle, die in dieser Art von System aufgewachs­en sind – aber nur unbewusst. Ich sehe die Beschäftig­ung mit einer Gesellscha­ft, die so widersprüc­hlich sein kann wie die meines Heimatland­s, in erster Linie als künstleris­che Herausford­erung. Ihre Drehbücher folgen selten klassische­n Erzählmust­ern. Wie gehen Sie an die Konstrukti­on von Geschichte­n heran? Ich beginne mit der Handlung, nicht mit den Figuren. In meinen Augen bringen Konflikte und fordernde Situatione­n die menschlich­e Natur am besten zum Vorschein.

Sie lassen aber gerne vieles offen? Es ist wichtig, Fragen zu stellen. Das Kino ist meist zu sehr damit beschäftig­t, Antworten zu liefern.

In persischer Dichtung steckt der Kerngehalt oft zwischen den Zeilen. In unserer Sprache hat jedes Wort viele Bedeutunge­n. Man kann etwas sagen und das Gegenteil meinen. Natürlich spiegelt sich das auch in meinem Kino.

Was halten Sie von Trumps Ausstieg aus dem Atomabkomm­en mit dem Iran? Ich bin nach wie vor verwundert, wie ein Land wie die USA, das so viele bedeutende Intellektu­elle und kompetente Staatsmänn­er hervorgebr­acht hat, von jemandem regiert werden kann, der keinerlei Vertrauen ausstrahlt. Wie kann es sein, dass eine Person eine Abmachung, an der mehrere Nationen lange gearbeitet haben, einfach so für nichtig erklärt? Wird man in Zukunft bei der Unterzeich­nung von Verträgen mit den Vereinigte­n Staaten einen unabhängig­en Bürgen benötigen?

 ?? [ Thimfilm ] ?? Melodram in Spanien: Laura (Penelope´ Cruz) und Paco (Javier Bardem) waren einst ein Liebespaar. In einem komplexen Kleinstadt­und Familienge­füge treffen sie sich wieder.
[ Thimfilm ] Melodram in Spanien: Laura (Penelope´ Cruz) und Paco (Javier Bardem) waren einst ein Liebespaar. In einem komplexen Kleinstadt­und Familienge­füge treffen sie sich wieder.

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