„Jeder übt in gewissem Maß Selbstzensur“
Film. Nächste Woche kommt „Offenes Geheimnis“, der neue Film des Oscar-Preisträgers Asghar Farhadi, in die Kinos. „Die Presse“sprach mit ihm über spanische Hochzeitsmusik, persische Dichtung und Henrik Ibsen.
Die Spanierin Laura (Penelope´ Cruz) kehrt aus Buenos Aires an ihren Geburtsort zurück, um der Hochzeitsfeier ihrer Schwester beizuwohnen. Dort trifft sie ihren einstigen Liebhaber Paco (Javier Bardem) wieder. Dieser hat Ländereien, die früher ihrer Familie gehörten, billig aufgekauft und in ein fruchtbares Weingut verwandelt – etwas, was ihm besonders von Lauras Vater vorgehalten wird. Dennoch kommen alle miteinander klar – bis ein Ereignis jeden dazu zwingt, seine Rolle im komplexen Kleinstadtgefüge zu überdenken. „Offenes Geheimnis“heißt die neue, spanischsprachige Kinoarbeit des iranischen Regisseurs Asghar Farhadi, der für seine vielschichtigen Sittenbilder „A Separation“und „The Salesman“schon zwei Mal mit dem Auslands-Oscar ausgezeichnet wurde. Es ist ein Film, der geschickt zwischen Psychound Melodrama hin- und herpendelt.
Die Presse: „Offenes Geheimnis“spielt in einem Vorort von Madrid. Nach „The Past“ist es bereits das zweite Mal, dass Sie einen Ihrer Filme außerhalb des Irans ansiedeln. Fällt es Ihnen leicht, sich in andere Kulturen hineinzudenken? Asghar Farhadi: Rückblickend habe ich immer das Gefühl, dass ich durch unbekannte Gewässer geschwommen bin, ohne ihre Tiefen und Gefahren zu kennen. Und irgendwann landete ich dann am Strand. Wie genau mir das gelungen ist, weiß ich nicht. Hilfreich war, dass die Familiengeschichte im Zentrum des Films etwas Universelles hat. Menschliches Zusammenleben unterscheidet sich von Kultur zu Kultur gar nicht so sehr, wie man meinen könnte.
Haben Sie für diesen Film aus Ihren eigenen Erfahrungen geschöpft? Vor allem in Bezug auf die Familienstruktur. Familien sind selten bloße Mutter-VaterKind-Gefüge, meist handelt es sich um größere Gemeinschaften. Und ihr Alltag ist stark von einer geteilten Vergangenheit abhängig. Das gilt im ländlichen Iran genauso wie in spanischen Vorstädten.
Familiäre Beziehungen stehen auch in Ihren anderen Filmen im Fokus. Mit Familiengeschichten kann man alles Mögliche erzählen. Nicht umsonst zieht sich die Familie als Leitmotiv durch die Weltliteratur, von Tolstoi bis Ibsen. Familien sind oft repräsentativ für die Gesamtgesellschaft. Zudem ist fast jeder Mensch auf die eine oder andere Art Teil einer Familie und findet sich daher in diesen Porträts wieder.
Kinder, die am Rand der Handlung bleiben, diese aber mitbestimmen, kommen oft bei Ibsen vor – wie bei „Offenes Geheimnis“. Eine Inspirationsquelle? Ja, meine Achtung für Ibsen ist groß. Seine Schilderung zwischenmenschlicher Beziehungen ist in ihrer Genauigkeit unerreicht. Ich habe eine Menge von ihm gelernt, besonders von „Ein Volksfeind“.
Haben Sie von Javier Bardem und Penelo-´ pe Cruz Tipps in Bezug auf kulturelle Feinheiten Spaniens bekommen? Das ganze Team hat mir geholfen, da keine Fehler zu machen. Es gibt im Film eine Hochzeitsszene, für die unser Komponist ein paar Songs geschrieben hat. Bei einem davon meinten einige, er sei zu spanisch, eine klischeehafte Übertreibung. Also haben wir etwas weniger „Typisches“verwendet.
In Ihren iranischen Arbeiten geht es oft um Dinge, die unausgesprochen bleiben – manchmal, weil sie nicht ausgesprochen werden dürfen. Spürten Sie im Fall von „Offenes Geheimnis“mehr Freiheit? Es war eine paradoxe Situation. Einerseits musste ich mein Drehbuch keiner Zensurstelle vorlegen, ich konnte machen, was ich wollte. Aber gleichzeitig schränkte mich die Wahl dieses spezifischen, persönlichen Fa- milienthemas auch ein, weil ich meinen Vorstellungen von Wahrhaftigkeit Genüge tun wollte.
Manche Ihrer Kollegen, etwa Jafar Panahi, wurden im Iran mit Berufsverbot belegt. Macht Sie das nervös? Selbstverständlich behalte ich die politischen Implikationen meines Schaffens stets im Hinterkopf. Aber meine Sorgen sind nicht stark genug, um mich vom Arbeiten abzuhalten. Sollte eines Tages etwas passieren, werde ich mich den Problemen stellen.
Sie üben also keine Selbstzensur? In gewissem Maß machen das wohl alle, die in dieser Art von System aufgewachsen sind – aber nur unbewusst. Ich sehe die Beschäftigung mit einer Gesellschaft, die so widersprüchlich sein kann wie die meines Heimatlands, in erster Linie als künstlerische Herausforderung. Ihre Drehbücher folgen selten klassischen Erzählmustern. Wie gehen Sie an die Konstruktion von Geschichten heran? Ich beginne mit der Handlung, nicht mit den Figuren. In meinen Augen bringen Konflikte und fordernde Situationen die menschliche Natur am besten zum Vorschein.
Sie lassen aber gerne vieles offen? Es ist wichtig, Fragen zu stellen. Das Kino ist meist zu sehr damit beschäftigt, Antworten zu liefern.
In persischer Dichtung steckt der Kerngehalt oft zwischen den Zeilen. In unserer Sprache hat jedes Wort viele Bedeutungen. Man kann etwas sagen und das Gegenteil meinen. Natürlich spiegelt sich das auch in meinem Kino.
Was halten Sie von Trumps Ausstieg aus dem Atomabkommen mit dem Iran? Ich bin nach wie vor verwundert, wie ein Land wie die USA, das so viele bedeutende Intellektuelle und kompetente Staatsmänner hervorgebracht hat, von jemandem regiert werden kann, der keinerlei Vertrauen ausstrahlt. Wie kann es sein, dass eine Person eine Abmachung, an der mehrere Nationen lange gearbeitet haben, einfach so für nichtig erklärt? Wird man in Zukunft bei der Unterzeichnung von Verträgen mit den Vereinigten Staaten einen unabhängigen Bürgen benötigen?