Im Getöse eines Gedenkjahres
Erinnerung. Noch einmal hat sich der Philosoph Rudolf Burger in einem Essay mit seinen provokanten Thesen zur Geschichte auseinandergesetzt. Er kommt 2018 gerade recht.
Man kann sich Rudolf Burger in mancherlei Ambiente vorstellen, etwa in einem großbürgerlichen Salon bei einem philosophischen Kamingespräch oder im Hörsaal hitzig diskutierend mit Studierenden. Besonders gut passte der Rahmen, in dem er vor wenigen Tagen zwei Stunden lang mit einer Schar von Freunden und Bewunderern zusammentraf: der Lesesaal der Wienbibliothek.
Eingeladen hatte Verleger Matthias Opis vom Molden-Verlag. Er hatte die Idee, Burger zu einer Revision seines inzwischen 15 Jahre alten Essays „Kleine Geschichte der Vergangenheit“zu ermuntern. Daraus wurde eine von Burger überarbeitete und ergänzte Neuauflage des längst vergriffenen Textes, er erschien jetzt als Buch mit dem Titel „Wozu Geschichte?“
Nicht wenige waren wohl zur Präsentation in die Bibliothek gekommen, um zu erkunden, ob der bald 80-jährige Denker noch die alte Lust zur Provokation in sich hatte oder, altersmilde gestimmt, seine früheren, aufsehenerregenden Thesen abgeschwächt hatte.
Wo Burger heute mehr denn je zuvor recht hat: Wir erleben gerade ein Übermaß an Geschichte. Österreich 2018, mit seinen zahlreichen Gedenktagen, ist ein ganz besonderes Beispiel dafür. In diesem Jahr werden von der „Memoria-Kultur“, wie sie Burger nennt, alle medialen Register gezogen. Man hat angesichts der sich überschlagenden Serie an Jahrestagen gelegentlich das Gefühl, dass die Gegenwart immer mehr „im Schlund ihrer eigenen Vergangenheit“zu verschwinden droht.
Gibt es diese Konfusion der Zeiten bei uns schon seit dem Boom rund um die Neuentdeckung der Kunst des Fin de Si`ecle oder, was die Zeitgeschichte betrifft, seit der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit im Gefolge der Waldheim-Affäre? Und ist die Überschwemmung der Gegenwart mit dieser Art von Erinnerungskultur problematisch? Nach Burger ja. Er hält es für einen Fehler, das Grauen der Nazizeit „als quasiaktuelle Erscheinungen unserer eigenen Gegenwart“heraufzubeschwören, und er hält es für einen Irrtum, daraus ex negativo Lehren für die Gegenwart ableiten zu können. Dabei könnten nur Gemeinplätze herauskommen.
„Denn was man etwa aus den Gräueltaten der Nazis, deren museale Pflege zur pädagogischen Obsession geworden ist, moralisch lernen können soll, das man nicht schon vorher wusste, verschließt sich jedem Räsonnement“, so Burger im Vorwort des neuen Buchs mit altgewohnter Schärfe. Die Pro- blematik liege darin, dass Geschichte zunehmend als „lautverzerrender Echoraum gegenwärtiger Ideologien, Hoffnungen und Ängste“erscheine.
Burger kann fesselnd erzählen, zum Beispiel wenn er eine Fantasie von Jorge Luis Borges aufnimmt, die Geschichte vom Mann, der eine Krankheit hat, die ihn lebensunfähig macht: Die Mnemopathie, die Unfähigkeit, etwas vergessen zu können. Die literarische Fiktion wandelt er um zu einem Argument gegen das Erinnern, vor allem: gegen die von außen auferlegte Verpflichtung zum Sich-Erinnern.
Das ständige Gedenken und Gedenken-Sollen, so der Philosoph, habe eine unheilvolle Wirkung: Es verhindere den gesellschaftlichen Frieden. Durch gemeinsames Beschweigen des Vergangenen hingegen sei, wie in der Antike oft demonstriert, Versöh- nung möglich. Das Vergessen sei ein Weg zur gesellschaftlichen Kohäsion. Wie sollte man nach einem verheerenden Bürgerkrieg sonst je wieder zur gesellschaftlichen Normalität zurückfinden? Auch wenn mache versucht sind, das als Lebenslüge zu bezeichnen: Es liefert Trost.
Burger liefert viele Beispiele, wie durch das öffentliche Nichterinnern um des Friedens willen Hass besänftigt wurde, beginnend bei der Antike nach massenhaften Vertreibungen, Morden und Massakern bis hin zum Westfälischen Frieden, der den Dreißigjährigen Krieg beendete. Erst das 20. Jahrhundert habe, beginnend mit den unseligen Friedensverträgen von Versailles 1919, feiert am 8. Dezember seinen 80. Geburtstag. Er war ab 1987 Professor für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst in Wien, von 1995 bis 1999 dort Rektor. Von ihm stammen zahlreiche Publikationen, zuletzt erschien im Molden-Verlag: „Wozu Geschichte? Eine Warnung zur rechten Zeit“(160 Seiten, 20 €), eine Revision seines Textes von 2003 („Kleine Geschichte der Vergangenheit“), der kontrovers diskutiert wurde. mit dieser zivilisierenden Tradition gebrochen. Damit blieben die Geister von Hass und Unfrieden lebendig.
Es ist klar, dass Burger vor allem auf die Verbrechen des 20. Jahrhunderts abzielt, in dem im Namen von quasi-religiösen Ideologien gewütet wurde wie noch nie zuvor. Zugleich hat dieses Jahrhundert nach Burger mit der Tradition des Nichterinnerns gebrochen. Wie ein biblischer Fluch habe das Gebot „Du sollst niemals vergessen!“die Völker Europas heimgesucht, in der Meinung, die Wiederkehr von Auschwitz sei durch die unablässige Konfrontation mit dem Schrecken zu verhindern. Burger: „Dass die Erinnerung an das Böse vor dessen Wiederholung schützt, ist also eine höchst fragwürdige These, auf historische Erfahrung stützen kann sie sich nicht.“
Der Gedanke stieß auf Kritik. Wie kann man ein Plädoyer für die Lebenslüge äußern, und sei sie noch so trostreich? Man wird in Österreich daran erinnert, dass die Aufbaugeneration nach 1945 aus „Lebenslügnern“bestand, sie haben in Politik und Gesellschaft die Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik auf dem Weg zu Versöhnung und Ausgleich geschrieben.
Der Gedanke, das Vergessen ein sinnvoller Weg zur Versöhnung sein kann und Gedenken unheilvoll, blieb nicht unwidersprochen. Aleida Assmann hat ihre Kritik mehrmals formuliert. Ihr Argument: Wie kann man Versöhnung oder Vergessen fordern, solange die Opfer sich noch so gut erinnern und sich erinnern wollen? Sind wir nicht durch die vielen Gedenkakte näher an die Wahrheit gerückt? Schweigen sei auch Totschweigen, Ignoranz, Ablenkung. Da angesichts der Frage, was die richtige Interpretation der Geschichte ist, Ungeheures angerichtet worden ist, empfiehlt Burger jedoch Skepsis. Er habe sich, anfangs durchaus ein Gläubiger, diese Haltung im Laufe eines langen Lebens in einem Prozess von Resignation und Enttäuschung angeeignet und sich so in die Reihe der Skeptiker eingereiht, die gemeinhin als Außenseiter, die an den Grundlagen der Gemeinschaft nagen, einen schlechten Ruf haben.
Angesichts des Übermaßes an Geschichte im österreichischen Gedenkjahr kommt Burgers großer Essay gerade recht. Er mahnt zur Entpathetisierung und wendet sich gegen die Instrumentalisierung der Geschichte. Den Lesern seines Buches sei gleich gesagt, so der Autor: „Ich habe nicht vor, Sie von irgendetwas zu überzeugen, sondern ganz im Gegenteil, Überzeugungen, von denen ich vermute, dass Sie sie haben, ein wenig ins Wanken zu bringen. Sollten Sie nach der Lektüre weniger zu wissen glauben als vorher, so wäre ich zufrieden.“