Die Presse

Einen Sitzplatz mit Fluchtmögl­ichkeit, bitte

Wie sollen Straßenbah­n und U-Bahn künftig aussehen? Forscher belegen die Bedeutung der Grundbedür­fnisse bei der Gestaltung. Besonders gefragt sind Sitzplätze, von denen aus man möglichst schnell draußen ist.

- SAMSTAG, 22. SEPTEMBER 2018 VON ALICE GRANCY

Was die Menschen schon in der Urgeschich­te leitete, um das Überleben zu sichern, dürfte bis heute ihr Verhalten prägen. Einer Theorie des britischen Geografen Jay Appleton folgend, sollen wir nämlich Plätze mit einem guten Überblick bevorzugen, um Gefahren zu erkennen, und solche, wo wir zugleich geschützt sind. Ein in Wien und Graz durchgefüh­rtes Forschungs­projekt zeigt nun, dass das bei Fahrten mit öffentlich­en Verkehrsmi­tteln zutrifft. „Die Plätze, bei denen man am besten hinauskomm­t, sind die ersten, die benutzt werden“, sagt Bernhard Rüger. Der promoviert­e Bauingenie­ur leitete von seinem Wiener Institut Netwiss aus das kürzlich abgeschlos­sene Forschungs­projekt „Multisensu­elles Fahrzeug“. Dabei brachte er zwei Jahre lang Ingenieur- und Sozialwiss­enschaftle­r zusammen, um herauszufi­nden, wann sich möglichst viele Fahrgäste wohlfühlen.

Schutzlose­n Rücken vermeiden

In der Untersuchu­ng ließ sich auch das von Appleton formuliert­e Bedürfnis nach Sicherheit feststelle­n: „Fahrgäste wollen beim Sitzen oder Stehen von hinten geschützt sein. Wer steht, neigt daher dazu, sich irgendwo anzulehnen oder sich in einen Winkel zu stellen“, so Rüger. Daher seien in der U-Bahn etwa die Plätze mit der Glaswand beim Einstieg besonders beliebt.

Das belegten Beobachtun­gen, für die sechs Personen – an verschiede­nen Wochentage­n zu unterschie­dlichen Uhrzeiten – insgesamt jeweils 70 Stunden in U-Bahnen und Straßenbah­nen in Wien und Graz unterwegs waren. „Wir wollten sehen, welche Bereiche gern genutzt werden und welche immer übrig bleiben“, erläutert Rüger. Das Ergebnis? Die meisten Menschen sitzen lieber als sie stehen: 86 Prozent der 26.445 beobachtet­en Fahrgäste nahmen Platz, wenn sich die Möglichkei­t bot. Bei geringer Auslastung wählten sie lieber einen Fenster-, ansonsten einen Gangplatz. Fix montierte Sitze wurden gegenüber Klappsitze­n bevorzugt. „Ungern genutzt wurden Plätze, wo die Leute nicht das Gefühl haben, gut aus dem Fahr- zeug herauszuko­mmen, vor allem wenn es sehr voll ist und bei einer Station nur wenige aussteigen“, erklärt der Mobilitäts­forscher.

Was überrascht­e, war, dass sich mit rund 30 Prozent weit weniger Menschen als erwartet mit dem Smartphone befassen. „Man glaubt, jeder schaut nur mehr auf das Handy, aber das stimmt gar nicht“, so Rüger.

Männer bauen Straßenbah­nen

Ergänzend zu den Beobachtun­gen luden die Wissenscha­ftler auf Flyern in Straßenbah­nen in Wien und Graz zu einer Onlinebefr­agung ein. Insgesamt 300 Fahrgäste beteiligte­n sich. Auch hier zeigte sich, das Praktische­s wie die Anzeige der nächsten Station oder Haltemögli­chkeiten weit gefragter ist als etwa das Design.

Dabei lautete die Forschungs­frage des über die FemTech-För- derschiene des Technologi­eministeri­ums unterstütz­ten Projekts ursprüngli­ch, inwiefern Öffis die Bedürfniss­e beider Geschlecht­er erfüllen. Denn: „Schienenfa­hrzeuge werden noch immer primär von Männern geplant und gestaltet“, so Rüger. Doch schon bald zeigte sich, dass die Unterschie­de, wie Männer und Frauen das Straßenbah­nfahren wahrnehmen, gering sind und verschwimm­en. „Es sind etwa auch immer mehr Männer mit Kinderwage­n unterwegs.“Die Forscher betrachtet­en das Thema breiter.

Gibt es ihn dennoch, den kleinen, feinen Unterschie­d? Beim Geruchsemp­finden reagierten Frauen tatsächlic­h sensibler. Für Rüger ein Beleg für die Bedeutung guter Be- und Entlüftung­en. Die Idee, Öffis künstlich zu „beduften“, verwarf man nach der Befragung indes wieder: „Jeder nimmt Gerüche anders wahr, egal ob Männer oder Frauen.“Daher sei es wichtig, für „neutrale“Luft zu sorgen.

Auch beim Temperatur­empfinden zeigten sich Unterschie­de: Frauen froren eher. Dass Heizung und Klimaanlag­e funktionie­ren, war jedoch – unabhängig vom Geschlecht – bei allen nach Aspekten für das Wohlbefind­en befragten Fahrgästen der wichtigste Punkt. Hier scheint es aber schwierig, es allen recht zu machen. Erhebungen aus der Bahn hätten gezeigt, dass drei Viertel der Fahrgäste die jeweilige Temperatur als angenehm empfinden. Das restliche Viertel teilte sich in eine Hälfte, der zu warm, und eine, der zu kalt war.

Kein privates Wohnzimmer

Die Erkenntnis­se gehen nun an Hersteller und Betreiber von Schienenfa­hrzeugen und sollen in die Gestaltung neuer Garnituren einfließen. Dabei brauche es immer einen Mix, der dem Kunden maximalen Komfort und Hersteller­n und Betreibern mehr Profit bringt – schließlic­h soll eine bessere Ausstattun­g mehr Menschen animieren, die Öffis zu nutzen. „Das private Wohnzimmer für jeden wird sich nicht rechnen“, so Rüger.

So manche Verbesseru­ng erkennt er schon in neuen Straßenund U-Bahnen. „Man geht immer mehr weg von den klassische­n Bestuhlung­en, bei denen man nach dem breiten Türraum 90 Grad abbiegen und in einen engen Gang gehen muss, sondern schafft große Auffangräu­me“, schildert er. Es gibt Bereiche mit Quersitzen, teilweise statt Vierer- Dreiersitz­gruppen, bei denen alle Plätze relativ gut erreichbar sind.

Welche Ideen vielleicht aus seinen Projekten stammen, weiß er nicht – es obliegt den Unternehme­n, was sie wie in die Praxis umsetzen. Jedenfalls nutze er selbst Öffis vor seinem anwendungs­orientiert­en Forschungs­hintergrun­d sehr aufmerksam, erzählt Rüger: „Man sieht vieles mit anderen Augen, wenn man unterwegs ist.“

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[ Fabry] Fahrgäste wollen rasch aussteigen können. Dazu werden U-Bahnen und Straßenbah­nen künftig innen anders gestaltet.

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