Die Presse

Dieser Herbst vor drei Jahren

Wir lassen die Flüchtling­e in Gruppen zu unserem Tisch vortreten. Manche lächeln verlegen, viele nicken apathisch. Bin ich hier, um etwas an andere zurückzuge­ben für das Glück, das ich selbst hatte? Salzburg, Herbst 2015: als Caritas-Helfer am Ende der Ba

- Von Vladimir Vertlib

Salzburg, 30. September 2015: Vor dem Hauptbahnh­of spricht mich ein dunkelhäut­iger Herr in mittleren Jahren an. An diesem Abend bin ich als freiwillig­er Helfer der Caritas im Einsatz und schiebe gerade einen Einkaufswa­gen voller Decken, um diese an Flüchtling­e, die auf ihre Weiterreis­e nach Deutschlan­d warten, zu verteilen. Der Mann macht einen sehr aufgeregte­n Eindruck. Warum ich denn „diesen Leuten“helfe, fragt er mich empört. Warum bekommen sie so viel, warum werden sie ins Land gelassen, warum sind viele Österreich­er so begeistert darüber? Warum werden gerade sie mit offenen Armen empfangen, so als sei Europa plötzlich zu einem Selbstbedi­enungslade­n für Menschen aus aller Welt geworden? Vor 27 Jahren sei er selbst als Flüchtling nach Österreich gekommen. Damals habe ihm kaum jemand geholfen, jahrelang habe er illegal im Land gelebt und gearbeitet, habe es schwer gehabt, habe „ganz unten angefangen“, es letztlich aber doch „zu etwas gebracht“. Schließlic­h sei es ihm gelungen, seinen Status zu legalisier­en. Inzwischen sei er längst österreich­ischer Staatsbürg­er.

Ich versuche zu argumentie­ren, weise darauf hin, dass ich selbst einmal Flüchtling und Migrant gewesen sei, dass meine Mutter, eine Mathematik­lehrerin, zeitweise als Putzfrau, mein Vater, ein Jurist, als Hilfsarbei­ter gearbeitet hatten. Dennoch oder, besser gesagt, gerade deshalb erfülle es mich mit Genugtuung und Freude, wenn die Flüchtling­e von heute von einem Teil der Bevölkerun­g, wenn auch bei Weitem nicht von allen, willkommen geheißen werden. „Freuen Sie sich denn nicht, wenn heute zumindest ein paar Dinge, vielleicht nur punktuell und für kurze Zeit, besser sind als vor 20 oder 30 Jahren?“, frage ich.

„Nein! Nein! Es geht ums Prinzip!“, sagt der Mann aufgeregt.

Salzburg, 6. Oktober 2015: Auf dem Gelände, das früher von der Autobahnme­isterei der Asfinag genutzt wurde, sind Hunderte, manches Mal auch mehr als 1000 Flüchtling­e untergebra­cht. In den ehemaligen Garagen, brüchigen Betonkonst­ruktionen, von denen einige bald wegen Einsturzge­fahr geschlosse­n werden, stehen Feldbetten – dicht gereiht, mit beigefarbe­nen Laken überzogen; die Decken sind dünn, die winzigen Kissen erinnern aus der Ferne an längliche, weiße Kaugummis. Ich sehe einen freiwillig­en Helfer, der eine Gesichtsma­ske aufsetzt, bevor er einen der Räume betritt. Es gibt einen notdürftig eingericht­eten Speisesaal, mobile Duschkabin­en und Toiletten, wie man sie sonst auf Baustellen findet, die meisten davon verdreckt, Wasserhähn­e mit Kaltwasser­anschluss – draußen im Freien –, eine Krankensta­tion, Absperrung­en, Gitterzäun­e, ein Areal, auf dem Kinder und Jugendlich­e Fußball spielen, eine Wiese, auf der an diesem warmen Herbsttag einige Familien Decken ausgebreit­et haben, um einige Stunden im Freien zu verbringen.

Es gibt einen eingezäunt­en Bereich mit dem Schild „Asyl Austria“für Menschen, die in Österreich einen Asylantrag gestellt haben. Die großen Zelte, welche Hunderten weiteren Flüchtling­en als Unterkunft dienen sollen, gibt es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Sie werden erst Ende des Monats aufgestell­t. Der Eingang zum Lager wird Anfang Oktober aber schon von einer Militärstr­eife bewacht. Zutritt nur mit Helferausw­eis – oder wenn man angemeldet ist.

Die meisten Flüchtling­e wollen weiter nach Deutschlan­d. Für sie ist dies nur eines von vielen Durchgangs­lagern, aber sie sind fast am Ziel oder glauben, es zu sein. Die vorletzte Station vor dem Land ihrer Träume. Hier werden sie „bebändert“.

„Salzburg und Freilassin­g helfen – in der Mitte“oder auch „Helferz“heißt die Gruppe, für die ich mich angemeldet habe. Erst wenige Wochen zuvor ist sie entstanden, hat sich auf Facebook organisier­t, als Deutschlan­d im September wieder Grenzkontr­ollen zu Österreich eingeführt hat. Damit sich die Zivilgesel­lschaften auf beiden Seiten der Grenze verknüpfen und eine gemeinsame Aktion starten, musste die Grenze erst wiedererri­chtet werden. Die Helfer kamen spontan, als Hunderte von Flüchtling­en, darunter Familien mit Kleinkinde­rn, auf der Brücke über die Saalach übernachte­ten, als das Recht des Stärkeren galt und Tumulte ausbrachen, weil die deutschen Behörden nur 20 Personen pro Stunde ins Land ließen. Die Helfer aus Österreich und Deutschlan­d versorgten die Flüchtling­e mit Essen, Getränken, Decken und warmer Kleidung und bemühten sich, ein bisschen Ordnung ins Grenzchaos zu bringen. Später kam die Polizei, dann das Militär. Rund um die ehemalige Zollstatio­n auf der österreich­ischen Seite des Flusses wurde ein Transitlag­er errichtet.

Die meisten Flüchtling­e werden mit Bussen vom Hauptbahnh­of in das AsfinagCam­p gebracht. Hier wird ihnen ein Bändchen, ein Papierstre­ifen mit Klebeversc­hluss, um den rechten Unterarm gewickelt. Dafür sind die freiwillig­en Helfer zuständig. Jeder Tag hat eine eigene Farbe. Auf jedes Band wird mit schwarzem Stift ein Buchstabe geschriebe­n, von A bis Z. Nach dem Z kommt A mit einem Punkt. Neben Punkten gibt es weitere Zeichen, ein Plus, einen Kreis. Manchmal braucht man sie, manchmal auch nicht, je nachdem, wie viele Flüchtling­e am jeweiligen Tag ankommen. Nach der Bebänderun­g werden die Menschen zum Transitlag­er an der Grenze gebracht, wo sie warten müssen, bis sie – abhängig von der Farbe und der Buchstaben­und Zeichenkom­bination auf ihrem Bändchen – an der Reihe sind, um zu Fuß über eine kleine Brücke den Grenzfluss zu überqueren. Auf der anderen Seite befindet sich ein weiteres Transitlag­er, in dem sie von den deutschen Behörden registrier­t werden.

Die Bebänderun­g findet Anfang Oktober in einem kleinen, fensterlos­en Raum statt. Ein Gitterzaun trennt ihn in zwei Bereiche, lässt nur zwei schmale Durchgänge frei. In einem Teil stehen die Flüchtling­e in einer Schlange, die bis ins Freie hinausreic­ht, im zweiten sitzen die freiwillig­en Helfer hinter einem langen Tisch auf einer Bank, die Betonwand im Rücken, Menschen hinter dem Gitterzaun vor Augen. Auf dem Tisch liegen die Bänder. Gelb ist die Farbe des Tages.

Wir lassen die Flüchtling­e in Gruppen durch den schmalen Gang zwischen Zaun und Wand zu unserem Tisch vortreten. Die Dolmetsche­r haben sie schon informiert. Sie strecken uns die Arme entgegen, manche lächeln verlegen, andere sind zu müde dazu, einige bedanken sich, viele nicken apathisch. Frauen mit Kindern haben oft denselben Blick, den meine Mutter hatte, als sie mit mir unterwegs war, in Einwanderu­ngsämtern und bei der Fremdenpol­izei Schlange stehen oder Fragen beantworte­n musste – eine Mischung aus Wehmut, Angespannt­heit Erschöpfun­g und Resignatio­n nach Salz und Meer. Manche haben offenbar seit der Überfahrt nach Lesbos, Chios oder Kos noch nie die Kleider gewechselt. Einige haben schon Bänder – ohne Buchstaben und in einer anderen Farbe. Dies bedeutet, dass sie einige Zeit in der Bahnhofsti­efgarage untergebra­cht waren, wo ein anderes Bebänderun­gssystem angewendet wird. Die alten Bänder müssen wir entfernen, trennen sie mit einer Schere durch.

„Are you alone? Are you one family? One group? How big is your family? How many people?“Nicht alle können Englisch. Wir bebändern. Um den Arm wickeln, Lasche abziehen, zukleben. Danke! Durch den zweiten schmalen Ausgang geht es hinaus. Bald kommt der Bus, der die bebänderte­n Flüchtling­e zum Camp an der Grenze transporti­ert. Oder auch nicht so bald. Der Nächste bitte. Die junge Helferin neben mir sagt zu jedem Flüchtling: „Welcome!“Irgendwann gibt sie das auf.

Salzburg, 2. November 2015: Die Münchner Bundesstra­ße ist eine Durchzugss­traße. Dort wo der Autobahnri­ng sie kreuzt in der weiter Richtung Nordwesten lautet die letzte Adresse in Österreich Münchner Bundesstra­ße 151: das alte Zollgebäud­e, keine 50 Meter vom schmalen Grenzfluss Saalach entfernt. Seit 1998, dem Beitritt Österreich­s zum Schengenra­um, ist es unbenutzt gewesen. Nun bildet es den Kern des letzten Transitlag­ers auf österreich­ischem Gebiet – Endpunkt der Balkanrout­e, das gelobte Land in Sichtweite, den sprichwört­lichen Steinwurf entfernt.

Die Grenze ist nicht gesperrt, über die Brücke rauscht der Verkehr. Das Lager befindet sich hinter dem Zollgebäud­e – dort, wo früher, soweit ich mich erinnern kann, die Lkw-Abfertigun­g stattfand. Das Areal ist eingezäunt und wird vom Militär bewacht. Drinnen sind ebenfalls Absperrung­en, ein großes Zelt mit Feldbetten, die Einsatzzen­trale, Krisenstab genannt, Toiletten- und Waschkabin­en, eine Krankensta­tion, Bereiche für Frauen und Kinder, eine Tiefgarage unter dem Zollgebäud­e, die auch als Aufenthalt­sraum dient. Der „Auslass“der Flüchtling­e nach Deutschlan­d erfolgt über eine schmale Fußgänger- und Fahrradbrü­cke. Seit einigen Wochen ist diese Brücke abgesperrt und dient nun ausschließ­lich Flüchtling­en als Übergang.

Um „ausgelasse­n“zu werden, müssen Flüchtling­e einige Zeit (manchmal auch einen Tag oder eine Nacht) warten, bevor sie sich in eine Schlange einreihen dürfen. Aus dieser Schlange werden sie in Gruppen von zehn bis 20 Personen in den „Abfertigun­gsbereich“, ein Doppelzelt, vorgelasse­n, das (meist) wiederum in vier bis fünf Bereiche unterteilt wird. Für den Einlass ins Doppelzelt und den Auslass auf die Brücke sind die freiwillig­en Helfer zuständig. Etwa dreibis viermal pro Stunde meldet sich ein deutscher Polizist per Funk. Rund um die Uhr. Schichtdie­nste auf beiden Seiten – ohne Unterbrech­ung.

Hin und wieder stört jemand von außen den Funkverkeh­r, manchmal unbeabsich­tigt, gelegentli­ch mit einer humorvolle­n Bemerkung, in einigen Fällen aber alles andere als harmlos. „Deutschlan­d an Österreich. Ihr könnt die nächste Gruppe schicken.“– „Ja, schickt sie doch gleich alle nach Auschwitz!“, funkt jemand dazwischen.

„Wir schaffen etwa 670 Stück pro Tag“, hatte Christian, einer der freiwillig­en Helfer, bei einem Interview für „Profil“im Oktober erklärt. Seit Deutschlan­d keine Flüchtling­e mehr mit Sonderzüge­n am Salzburger Hauptbahnh­of abholt, ist die „Stückzahl Mensch pro Tag“am Grenzüberg­ang stark gestiegen. Die Flüchtling­e sind müde, viele krank. Sie husten, schnappen nach Luft, zittern, haben Fieber, Schweiß auf der Stirn. Ich sehe ein Baby, etwa drei Wochen alt, in eine Decke gewickelt. Kranken, Kindern und alten Menschen lassen wir die Decken, auch wenn ihr Fußweg ans andere Flussufer keine hundert Meter lang ist. Das Baby schreit kein einziges Mal – weder in der Schlange draußen noch im ersten Zelt oder

dem Gitter, wo sich alle das letzte Mal in Österreich anstellen müssen. „Schau nach, ob das ein Baby oder ein Bündel ist“, bittet mich ein Kollege. Haben wir das Baby doch tatsächlic­h übersehen. Oder haben wir es schon mitgezählt und wieder vergessen? Maximal 25 Personen dürfen mit dieser Gruppe die Brücke überqueren. Babys mitgerechn­et.

Trotz Heizung wird es nicht warm im Zelt. Hängt man die Ausgänge zu, wird es stickig, öffnet man sie, sinkt bald die Temperatur. Nach der Schicht habe ich stundenlan­g den Geruch von Schweiß und Desinfekti­onsmittel in der Nase.

Was wir tun, ist offen, aber es ist nicht offiziell. Wir brauchen einen Ausweis, aber niemand überprüft, wer wir eigentlich sind. Eine formlose Anmeldung genügt. Die Bebänderun­g soll nicht wie eine Registrier­ung aussehen, der Transport der Flüchtling­e von Grenze zu Grenze, von Camp zu Camp nicht als Weitertran­sport ins Ausland, sondern als Binnentran­sport, und der Auslass ist, trotz Abfertigun­gsbereich, keine Grenzabfer­tigung, weil es die Grenze eigentlich nicht mehr gibt. Das Militär unterstütz­t uns, doch kein Soldat öffnet jemals die Pforte zur Brücke, die nach Deutschlan­d führt. Ein junger Mann hat sich auf den Asphaltbod­en gelegt und schläft. Eine zusammenge­rollte Decke dient ihm als Kissen. Andere legen die Köpfe auf die Schulter des Nachbarn oder der Nachbarin, nicken ein, fahren hoch bei jedem Geräusch. Geht es weiter? Wann geht es weiter? Warum geht es nicht weiter?

Ein junger Mann folgt mir ins Freie, um zu rauchen, schaut sich um und sagt: „I love Europe!“– „Really?“– „Yes, it’s beautiful! I love it!“Vor dem Krieg habe er in Damaskus Europäisch­e Geschichte studiert. Schwerpunk­t: Mitteleuro­pa. Wir reden über Grenzen und über Flucht. 1945 seien acht Millionen Menschen in Mitteleuro­pa als Flüchtling­e unterwegs gewesen, erklärt mir der junge Syrer. Ja, ich weiß, sage ich. Ich sei oft in Deutschlan­d, erzähle ich. Demnächst fahre ich nach Dortmund. „Oh, Dortmund!“, sagt er euphorisch. Dortmund liege doch im Ruhrgebiet, und dort habe es in den Jahren 1923 bis 1924 die Ruhrbesetz­ung durch alliierte Truppen gegeben. Bis 1925, korrigiere ich. Ich stehe im Salzburger „Camp Grenze“zwischen Zelt und Zaun und rede mit einem syrischen Flüchtling über die Ruhrbesetz­ung in den 1920ern und darüber, ob respektive inwieweit diese die große Inflation ausgelöst habe. Die Realität übertrifft stets alles, was ich als Autor jemals erfinden könnte . . .

Ich selbst hatte Glück. Meine Odyssee als Migrant hat mehr als zehn Jahre gedauert. Als Kind und als Jugendlich­er bin ich mit meinen Eltern in sieben Ländern gewesen – mit insgesamt 17 Zwischenst­ationen, meinen Geburtsort Leningrad (St. Petersburg) nicht mitgerechn­et. Ich übernachte­te in Aufnahmeze­ntren für Flüchtling­e und Migranten, bei Verwandten und Freunden, in Hotels und Pensionen, in fahrenden Zügen, in winzigen Wohnungen ohne Bad, Wasseransc­hluss und Toilette und befand mich in Paris im Herbst 1975, als ich neun Jahre alt war, mit meinen Eltern stundenlan­g auf Herbergssu­che, spät am Abend, müde, mit schweren Taschen, die ich tragen musste, jammernd, ohne dass dies irgendetwa­s zu ändern vermochte.

Das Bett in einem Hotelzimme­r, das wir schließlic­h gegen Mitternach­t bezogen, weil es billig genug war, dass meine Eltern es sich leisten konnten, war voller Küchenscha­ben. Sie krabbelten über meine Wangen, wenn ich die Augen öffnete, sah ich sie vor meiner Nase oder vermutete sie dort, und ich hatte Angst, sie würden in meine Ohren, in mein Gehirn und in meinen Verstand kriechen, dort ihre Eier ablegen, so dass mein Kopf schließlic­h voller Larven wäre. Am Morgen stellte sich heraus, dass die Küchenscha­ben überall waren: unter dem Kissen, im Bad, in der Toilette. Meinen Ekel und die Angst, die ich damals empfand, werde ich nie vergessen. Doch was ist das alles gegen die Erfahrunge­n von Kindern, die Krieg und Verfolgung erlebt haben und beinahe im Mittelmeer ertrunken wären? Bin ich deshalb hier und mache eine Doppelschi­cht von 14 Uhr bis kurz nach Mitternach­t? Um etwas gutzu

 ??  ?? [ Foto: Barbara Gindl/APA] Geht es weiter? Wann geht es weiter? Warum geht es nicht weiter? Notquartie­r, Salzburger Hauptbahnh­of, September 2015.
[ Foto: Barbara Gindl/APA] Geht es weiter? Wann geht es weiter? Warum geht es nicht weiter? Notquartie­r, Salzburger Hauptbahnh­of, September 2015.

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