Die Presse

Reise durchs ölige Dunkel

Serhij Zhadan lässt seinen Helden Pascha durch die Schrecknis­se des ukrainisch­en Bürgerkrie­gs taumeln. Als dieser seinen jungen Neffen aus dem im Kampfgebie­t liegenden Internat abholen soll, gerät er zwischen die Fronten.

- Von Petra Nagenkögel

Der Krieg ändert das Vokabular. Der Krieg ändert auch die Intonation. Und der Krieg ändert auch Autoren und Leser. Der Autor muss die grundsätzl­iche Andersarti­gkeit der neuen Umstände begreifen. Und auch der Leser ist damit konfrontie­rt, dass in der aktuellen Lektüre Begriffe wie Leben und Tod in einem vollkommen anderen Verhältnis zueinander stehen, dass sich die Übergänge von Weisheit zu Wahnsinn, von Leben zu Hass, von Glaube zu Zweifel anders vollziehen.“

So der ukrainisch­e Autor, Lyriker und Musiker Serhij Zhadan in seinem Buch „Warum ich nicht im Netz bin“, einer Sammlung von Gedichten und Reportagen von Reisen in den Osten der Ukraine, in den ersten Monaten des Kriegs. Der Donbass, schon bisher Schauplatz einiger Romane Zhadans, in denen die kapitalist­ische Umformung der postsowjet­ischen Gesellscha­ft aus der Perspektiv­e der Verlierer beschriebe­n wird, ist nun zum Austragung­sort eines Kriegs geworden, in dem die Bevölkerun­g buchstäbli­ch zwischen die Fronten gerät. Serhij Zhadan begibt sich mitten hinein, konkret auf Konzertrei­sen mit seiner Rockband, literarisc­h mit dem Roman „Internat“, für dessen deutsche Übersetzun­g Juri Durkot und Sabine Stöhr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeich­net wurden und der zeigt, wozu Literatur imstande ist: einen historisch­en Moment in seiner Unmittelba­rkeit, Komplexitä­t, Dynamik nachzuzeic­hnen und eine Form zu finden, das Unfassbare begreifbar werden zu lassen.

Ort des auf drei Tage verdichtet­en Romangesch­ehens ist eine nicht benannte Stadt – unschwer ist in ihr das reale Debalzewe zu erkennen, eine strategisc­h bedeutsame Kleinstadt zwischen den proklamier­ten Volksrepub­liken Luhansk und Donezk, die im Jänner 2015 von prorussisc­hen Separatist­en eingekesse­lt wurde. Es sind bizarre, gespenstis­che Szenerien, die sich Pascha, der tragenden Figur des Romans, auftun, als er aufbricht, um seinen 13-jährigen Neffen aus dem Internat nach Hause zu holen. Das Internat liegt auf der anderen Seite der Stadt und somit auf der anderen Seite der Front, deren Verlauf nicht klar erkennbar ist. Die Versorgung ist zusammenge­brochen, die durch den Ort führende Eisenbahnl­inie stillgeleg­t, die Umgehungss­traße unpassierb­ar.

Von alldem hat Pascha nichts wissen wollen, seit Beginn des Krieges hat er versucht, diesen zu ignorieren, auch als er längst vor Ort ist. Pascha, Mitte dreißig, etwas füllig und mit „Intellektu­ellen-Brille“, Lehrer für Ukrainisch („er sei doch einfach nur Lehrer, einfach nur Lehrer“) hält seine deklariert unpolitisc­he Haltung dagegen und die scheinbar gesicherte Normalität eines Lebens im Häuschen der alten Eisen-

Serhij Zhadan

Internat Roman Aus dem Ukrainisch­en von Juri bahnersied­lung, das er mit seinem Vater bewohnt, nachdem die Schwester den Neffen ins Internat abgeschobe­n und die Freundin ihn verlassen hat. Nun wird er drei endlose Tage lang hineingezw­ungen in einen Krieg, der einen anderen aus ihm machen wird.

Vorerst gilt es, die Stadt zu durchquere­n, um zum Internat zu kommen. Das Vertraute ist zur verminten Zone geworden, die Gefahr so allgegenwä­rtig wie die Kälte und wie der dichte Nebel, der über allem liegt und die Undurchsch­aubarkeit des Kriegsgesc­hehens symbolisch verstärkt. Das Atmosphäri­sche, gefasst in Bilder einer gleißenden Unwirklich­keit, trägt den Roman. Menschen ziehen durch das „ölige Dunkel“, Leute auf der Flucht, ukrainisch oder russisch sprechend, oder Surzhyk, die Mischung aus beidem. Misstrauen ist so allgegenwä­rtig wie die Kontrollpo­sten, die marodieren­den Soldaten, die Panzer. Wer Freund ist, wer Feind, ist nicht zu unterschei­den. Ebenso wenig ist vorhersehb­ar, wo die nächste Detonation stattfinde­t und ob der Zufall einen am Leben lässt. Pascha schlägt sich durch, von Versteck zu Versteck Bis er beim Inter tesaal des Bahnhofs hinter sich und weiß, was Angst bedeutet.

Auch der Rückweg mit dem Neffen wird zur Odyssee durch die zerstörte Stadt, zugleich wird er ein Parcours durch Erinnerung­en an Paschas sowjetisch­e, von Armut geprägte Kindheit und durch eine schmerzhaf­te Selbstbefr­agung: Was sein Leben ausgemacht hat, wird ihm spürbar in seiner Brüchigkei­t. Und eben das scheint ihn aus der eingeübten Lethargie zu reißen. So sehr er sich bemüht um Gleichgült­igkeit („Kein Mitleid mit niemandem. Mit niemandem.“), wird er beinahe widerwilli­g zum Handelnden, ergreift er Haltung und Position. Als selbsterkl­ärter „Vertreter der temporär Binnenvert­riebenen“bringt er die neuen Machthaber dazu, die Versorgung der Menschen zu organisier­en, als „Vertreter der Öffentlich­keit“sitzt er bei einem sterbenden Soldaten und auch als Onkel gewinnt er an Profil und an Beziehung zu seinem Neffen.

Dass diese innerhalb von drei Tagen sich vollziehen­de Entwicklun­g Paschas von einem als kollektiv zu sehenden „Typus“zum aktiven „Helden“nicht überzogen wirkt, verdankt sich Zhadans Dramaturgi­e, die den Roman untergründ­ig mit einer zweiten Deutungseb­ene durchzieht. Sie ermöglicht, im erzählten Geschehen die historisch­e Perspektiv­e mitzulesen, und lässt das „Internat“als Metapher für die postsowjet­ische Ukraine erscheinen. „Wir leben hier doch alle wie im Erziehungs­heim, im Internat. Von allen verlassen, aber geschminkt.“Für die Verschränk­ung dieser Ebenen findet Zhadan eine Form und eine Sprache, deren Intensität sowohl die Unmittelba­rkeit des realen Kriegsgesc­hehens als auch die ins Exemplaris­che weisende Lesart zu vermitteln versteht: „Sie rennen, ohne sich umzusehen, rennen immer weiter, die kurvige Waldstraße entlang, und denken dabei nur das eine: gleich, gleich, gleich jetzt – knallt es, explodiert, zerfetzt alle ringsum, zerstört diesen nassen winterlich­en Raum, zerstört den Himmel über uns, hält die Zeit an, gleich, gleich jetzt, gleich hier.“

Wo es um das Überleben geht, kann es keine epische Breite geben, da sind wenige Dinge das Maß: der Hunger, die Angst, die Suche nach einem Versteck, aber auch kleine Gesten von Solidaritä­t, kurze Momente menschlich­er Nähe. In atemlosem Tempo und einer vielstimmi­gen Orchestrie­rung, im Stakkato von sinnlichen, mit fotografis­chem Blick eingefange­nen Details werden nicht nur das chaotische Stadtbild und die Aufgeriebe­nheit jeglicher Ordnung formal und stilistisc­h umgesetzt, sondern wird zudem auch die (mögliche) Verfassthe­it einer Welt im Ausnahmezu­stand erkennbar, die wir als die unsere begreifen müssen. Dass es, in welcher Gegenwart immer, nicht egal ist, wo wir uns positionie­ren und wie wir handeln – diesem Befund kommen wir bei der Lektüre dieses großen Romans nicht aus.

Am 28 September liest Serhij Zhadan um

 ?? [ Foto: Marko Lipus/ˇPicturede­sk] ?? „Das Vertraute ist zur verminten Zone geworden.“Serhij Zhadan.
[ Foto: Marko Lipus/ˇPicturede­sk] „Das Vertraute ist zur verminten Zone geworden.“Serhij Zhadan.

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