Reise durchs ölige Dunkel
Serhij Zhadan lässt seinen Helden Pascha durch die Schrecknisse des ukrainischen Bürgerkriegs taumeln. Als dieser seinen jungen Neffen aus dem im Kampfgebiet liegenden Internat abholen soll, gerät er zwischen die Fronten.
Der Krieg ändert das Vokabular. Der Krieg ändert auch die Intonation. Und der Krieg ändert auch Autoren und Leser. Der Autor muss die grundsätzliche Andersartigkeit der neuen Umstände begreifen. Und auch der Leser ist damit konfrontiert, dass in der aktuellen Lektüre Begriffe wie Leben und Tod in einem vollkommen anderen Verhältnis zueinander stehen, dass sich die Übergänge von Weisheit zu Wahnsinn, von Leben zu Hass, von Glaube zu Zweifel anders vollziehen.“
So der ukrainische Autor, Lyriker und Musiker Serhij Zhadan in seinem Buch „Warum ich nicht im Netz bin“, einer Sammlung von Gedichten und Reportagen von Reisen in den Osten der Ukraine, in den ersten Monaten des Kriegs. Der Donbass, schon bisher Schauplatz einiger Romane Zhadans, in denen die kapitalistische Umformung der postsowjetischen Gesellschaft aus der Perspektive der Verlierer beschrieben wird, ist nun zum Austragungsort eines Kriegs geworden, in dem die Bevölkerung buchstäblich zwischen die Fronten gerät. Serhij Zhadan begibt sich mitten hinein, konkret auf Konzertreisen mit seiner Rockband, literarisch mit dem Roman „Internat“, für dessen deutsche Übersetzung Juri Durkot und Sabine Stöhr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurden und der zeigt, wozu Literatur imstande ist: einen historischen Moment in seiner Unmittelbarkeit, Komplexität, Dynamik nachzuzeichnen und eine Form zu finden, das Unfassbare begreifbar werden zu lassen.
Ort des auf drei Tage verdichteten Romangeschehens ist eine nicht benannte Stadt – unschwer ist in ihr das reale Debalzewe zu erkennen, eine strategisch bedeutsame Kleinstadt zwischen den proklamierten Volksrepubliken Luhansk und Donezk, die im Jänner 2015 von prorussischen Separatisten eingekesselt wurde. Es sind bizarre, gespenstische Szenerien, die sich Pascha, der tragenden Figur des Romans, auftun, als er aufbricht, um seinen 13-jährigen Neffen aus dem Internat nach Hause zu holen. Das Internat liegt auf der anderen Seite der Stadt und somit auf der anderen Seite der Front, deren Verlauf nicht klar erkennbar ist. Die Versorgung ist zusammengebrochen, die durch den Ort führende Eisenbahnlinie stillgelegt, die Umgehungsstraße unpassierbar.
Von alldem hat Pascha nichts wissen wollen, seit Beginn des Krieges hat er versucht, diesen zu ignorieren, auch als er längst vor Ort ist. Pascha, Mitte dreißig, etwas füllig und mit „Intellektuellen-Brille“, Lehrer für Ukrainisch („er sei doch einfach nur Lehrer, einfach nur Lehrer“) hält seine deklariert unpolitische Haltung dagegen und die scheinbar gesicherte Normalität eines Lebens im Häuschen der alten Eisen-
Serhij Zhadan
Internat Roman Aus dem Ukrainischen von Juri bahnersiedlung, das er mit seinem Vater bewohnt, nachdem die Schwester den Neffen ins Internat abgeschoben und die Freundin ihn verlassen hat. Nun wird er drei endlose Tage lang hineingezwungen in einen Krieg, der einen anderen aus ihm machen wird.
Vorerst gilt es, die Stadt zu durchqueren, um zum Internat zu kommen. Das Vertraute ist zur verminten Zone geworden, die Gefahr so allgegenwärtig wie die Kälte und wie der dichte Nebel, der über allem liegt und die Undurchschaubarkeit des Kriegsgeschehens symbolisch verstärkt. Das Atmosphärische, gefasst in Bilder einer gleißenden Unwirklichkeit, trägt den Roman. Menschen ziehen durch das „ölige Dunkel“, Leute auf der Flucht, ukrainisch oder russisch sprechend, oder Surzhyk, die Mischung aus beidem. Misstrauen ist so allgegenwärtig wie die Kontrollposten, die marodierenden Soldaten, die Panzer. Wer Freund ist, wer Feind, ist nicht zu unterscheiden. Ebenso wenig ist vorhersehbar, wo die nächste Detonation stattfindet und ob der Zufall einen am Leben lässt. Pascha schlägt sich durch, von Versteck zu Versteck Bis er beim Inter tesaal des Bahnhofs hinter sich und weiß, was Angst bedeutet.
Auch der Rückweg mit dem Neffen wird zur Odyssee durch die zerstörte Stadt, zugleich wird er ein Parcours durch Erinnerungen an Paschas sowjetische, von Armut geprägte Kindheit und durch eine schmerzhafte Selbstbefragung: Was sein Leben ausgemacht hat, wird ihm spürbar in seiner Brüchigkeit. Und eben das scheint ihn aus der eingeübten Lethargie zu reißen. So sehr er sich bemüht um Gleichgültigkeit („Kein Mitleid mit niemandem. Mit niemandem.“), wird er beinahe widerwillig zum Handelnden, ergreift er Haltung und Position. Als selbsterklärter „Vertreter der temporär Binnenvertriebenen“bringt er die neuen Machthaber dazu, die Versorgung der Menschen zu organisieren, als „Vertreter der Öffentlichkeit“sitzt er bei einem sterbenden Soldaten und auch als Onkel gewinnt er an Profil und an Beziehung zu seinem Neffen.
Dass diese innerhalb von drei Tagen sich vollziehende Entwicklung Paschas von einem als kollektiv zu sehenden „Typus“zum aktiven „Helden“nicht überzogen wirkt, verdankt sich Zhadans Dramaturgie, die den Roman untergründig mit einer zweiten Deutungsebene durchzieht. Sie ermöglicht, im erzählten Geschehen die historische Perspektive mitzulesen, und lässt das „Internat“als Metapher für die postsowjetische Ukraine erscheinen. „Wir leben hier doch alle wie im Erziehungsheim, im Internat. Von allen verlassen, aber geschminkt.“Für die Verschränkung dieser Ebenen findet Zhadan eine Form und eine Sprache, deren Intensität sowohl die Unmittelbarkeit des realen Kriegsgeschehens als auch die ins Exemplarische weisende Lesart zu vermitteln versteht: „Sie rennen, ohne sich umzusehen, rennen immer weiter, die kurvige Waldstraße entlang, und denken dabei nur das eine: gleich, gleich, gleich jetzt – knallt es, explodiert, zerfetzt alle ringsum, zerstört diesen nassen winterlichen Raum, zerstört den Himmel über uns, hält die Zeit an, gleich, gleich jetzt, gleich hier.“
Wo es um das Überleben geht, kann es keine epische Breite geben, da sind wenige Dinge das Maß: der Hunger, die Angst, die Suche nach einem Versteck, aber auch kleine Gesten von Solidarität, kurze Momente menschlicher Nähe. In atemlosem Tempo und einer vielstimmigen Orchestrierung, im Stakkato von sinnlichen, mit fotografischem Blick eingefangenen Details werden nicht nur das chaotische Stadtbild und die Aufgeriebenheit jeglicher Ordnung formal und stilistisch umgesetzt, sondern wird zudem auch die (mögliche) Verfasstheit einer Welt im Ausnahmezustand erkennbar, die wir als die unsere begreifen müssen. Dass es, in welcher Gegenwart immer, nicht egal ist, wo wir uns positionieren und wie wir handeln – diesem Befund kommen wir bei der Lektüre dieses großen Romans nicht aus.
Am 28 September liest Serhij Zhadan um