Von Brücken, Rissen und alten Nazis
Mit der Offenlegung von Familienverstrickungen, die aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs resultieren, beschäftigte sich Hanna Sukare schon in ihrem ersten Roman, „Staubzunge“. Die Autorin entwarf mittels verschiedener Erzählstimmen ein beklemmendes Generationenbild und zeigte, wie sich das allgegenwärtige NS-Regime in die allerintimsten Angelegenheiten seiner Bürger mischte und wie die Folgen bis heute nachwirken. Dafür bekam sie 2016 den Rauriser Literaturpreis.
Nun beschränkt sie sich auf einen IchErzähler, der sich in ein kräftezehrendes Unterfangen verbeißt. Sukare verarbeitet in ihrem neuen Roman wahre Ereignisse rund um die Gemeinde Goldegg in Salzburg und den Goldegger Sturm, der im Juli 1944 stattfand und bei dem auf der Suche nach Wehrdienstverweigerern 14 Menschen getötet und über 50 Personen in Konzentrationslager verschleppt wurden.
Der gleichnamige Protagonist von „Schwedenreiter“ist von Beruf Brückenmeister, arbeitet in Wien und stammt aus dem fiktiven Ort Stumpf im Innergebirg, der Goldegg nachempfunden ist. Diese Gemeinde veröffentlicht zum Ärger Paul Schwedenreiters eine Ortschronik, in der die Deserteure des Zweiten Weltkriegs als „Landplage“bezeichnet werden. Die Urgroßmutter Schwedenreiters war als Lebensgefährtin eines Deserteurs in ein Konzentrationslager deportiert worden, sie überlebte. Nach dem Krieg erhält sie keine Unterstützung von der Gemeinde, sie war ja eine „Politische“. Sie und ihr Sohn werden zwar geduldet, aber die Schande, eine „KZlerin“gewesen zu sein, kann sie nicht abschütteln.
In typischer Opfer-Täter-Umkehr, die in Österreich Tradition hat, wird ihr dieser Umstand als Schuld angelastet und dafür ein SS-Offizier, der den Ort gerettet haben soll, als Held gefeiert. Schwedenreiter hingegen wurde in seiner Kindheit als „Partisanenbrut“verunglimpft. Davon, dass alle Deserteure aus dem Nazi-Regime rehabilitiert sind, hat man in Stumpf noch nichts gehört. Insofern spricht der Name Bände, ebenso die Bezeichnungen der Nachbarorte, Hinterstumpf und Zach. Und dass ausgerechnet in Stumpf Literaturtage mit Poetry-Slams, DJ-Partys und Haubenküche stattfinden, die mit Thomas Bernhards Namen locken, ist eine besondere Perfidie der Autorin.
Schwedenreiter und die Tochter eines in Dachau gehenkten Wehrdienstverweigerers, Wawi, wollen einen Gedenkstein für die Deserteure, die im Krieg umgebracht worden sind, im Ortszentrum von Stumpf aufstellen lassen, neben dem Kriegerdenkmal für die gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkriegs. Der Bürgermeister nennt den geplanten Gedenkstein despektierlich „Gegenstein“. Ein Therapeut, der im Ort Seminare leite, rate ihm davon ab, ein Gegenstein mache quasi schlechte Stimmung, für die Gäste und die Stumpfer Familien wäre das eine psychische Belastung. Dass sowohl Schwedenreiters als auch Wawis Familien aus Stumpf sind, spielt dabei keine Rolle.
Schwedenreiter aber lässt nicht locker. Nun will er die Ortschronik widerlegen und eine Biografie des SS-Offiziers und Gebirgsjägers, der in der Chronik als Retter von Stumpf dargestellt wird, schreiben. Er beginnt in Archiven nach Quellen zu suchen und alles zu sammeln, was den Werdegang des Gebirgsjägers betrifft. Die Wohnung füllt sich mit Unmengen von Zetteln, jedes Zimmer beherbergt Dokumente und Akten, die Quellen ordnet Schwedenreiter nach ihrem Leidensfaktor. Das sogenannte Ekelwerk – Dokumente mit besonders widerwärtigem Inhalt – wird in weißes Papier eingeschlagen und nur außer Haus gelesen.
Dass Schwedenreiter als Brückenmeister ein Brückenbauer sein könnte, wer weiß. Die Stumpfer sehen das nicht so. Jedenfalls ist er Rissexperte. „Sehe ich ein Bauwerk, nehme ich unwillkürlich dessen Risse wahr. Sie bilden sich zuerst an Stellen, die wir schwach nennen. Risse sind Signale, zeigen Ermüdung des Materials. Das Material ermüdet, wenn es nicht in Ruhe gelassen, sondern ungleichmäßig belastet wird.“
Auch Schwedenreiter ermüdet zusehends durch die Arbeit an den belastenden Quellen. Die Risse in seinem Leben sind ohnehin unreparierbar. Seine langjährige Freundin Meret ist gestorben, die ehemals gemeinsame Wohnung geht in der aberwitzigen Papierflut unter. Eigentlich „wollte ich ungestört an Meret denken. Hätte die Gemeinde mir nicht ihre Ortschronik ins Herz gezwungen, hätte ich meine Trauerjahre nicht an einen alten Nazi verschwendet.“
Der „alte Nazi“wird in den letzten Kriegsjahren verwundet und verliert einen Unterschenkel. Ab dem 30. Oktober 1945 ist er als Häftling in Glasenbach gemeldet, jedoch wird er zwei Jahre im Heimkehrerspital Salzburg verbringen, seine „Pyjamajahre“, so nennt Schwedenreiter diese Zeit. Die Entnazifizierung misslingt im Speziellen bei dem Gebirgsjäger, aber auch im Allgemeinen bei anderen Insassen, denn in Glasenbach „schulten hohe nationalsozialistische Funktionäre ihre früheren Untergebenen“. Und nur wenige Österreicher haben überhaupt den Wunsch, „die Nazis aus dem Kollektiv zu entfernen“. Man will vertuschen, verdrängen, vergessen. So kann der Gebirgsjäger wieder seinen alten Beruf als Lehrer ausüben, ohne die didaktischen Gepflogenheiten verändern zu müssen. Die Prügelstrafe wurde in Österreich ohnehin erst 1974 abgeschafft. Noch in den Fünfzigerjahren erlangt der Gebirgsjäger als Tierstimmenimitator und Geschichtenerzähler regionale Bekanntheit und veröffentlicht eine CD. Später bringt er einen Band mit heiteren Erzählungen heraus, in denen er „Lustiges“aus seiner Lehrerzeit zum Besten gibt. Lustig ist es, wenn einem Schüler „Rotz und Wasser übers Gesicht rinnen“oder „brave Schüler nasse Hosen bekamen“.
Die deprimierende Beschäftigung Schwedenreiters mit dem Lebenslauf des SS-Offiziers und der österreichischen Nachkriegszeit schlägt ordentlich auf das Gemüt, auch auf das lesende. Obwohl die Recherchearbeit am Dokumentarmaterial von Sukare spannend und mit bösem Humor gezeichnet wird, sehnt man sich nach deren Ende. Manche Schriftstücke führen auf Irrwege, die mühsam wieder entflochten werden müssen. Die Lügen des Gebirgsjägers und seine sich im Laufe der Jahre verändernden Rechtfertigungen, aber auch seine ideologische Unbelehrbarkeit zehren an der Substanz des Erzählers. Man wünscht dem Brückenmeister so sehr, dass er endlich mit dem „Ekelwerk“abschließen und es ad acta legen kann.
Schwedenreiter Roman. 172 S., geb., € 20 (Otto Müller Verlag, Salzburg)
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