Mit dem Rücken zur Wand
Unter der Brücke, Morgendämmerung. Ein Mann in den Zwanzigern führt eine doppelt so alte, zarte Frau zu einem klapprigen Rollstuhl und schiebt sie zu ihrer Arbeitsstelle. Ihre Vormittagsschicht beginnt. Demnächst im Kino: „Zu ebener Erde“– aus dem Leben O
In einem halb offenen Stadtbahnbogen schlafen zwei Menschen inmitten weniger Habseligkeiten auf dem Boden. Mit weißer Farbe hat jemand „Hate you bastard“an die steinernen Wände gemalt. Ein paar Meter oberhalb des Notquartiers fahren Radfahrer, Jogger absolvieren ihre morgendlichen Runden. Mütter schieben Kinderwägen, Müßiggänger schlendern am Wienufer entlang. Gedämpfter Straßenlärm ist zu hören, Krähen senden scharfe Warnrufe aus. Ein Morgen in der Großstadt. Die Langzeitdokumentation über das Leben von Menschen, die ohne Dach über dem Kopf sind und die sich in die Nischen der Stadt zurückgezogen haben, begleitet einige Protagonisten durch den Tag. Der Beobachtungszeitraum erstreckt sich über ein ganzes Jahr.
Den angenehmen Tagen des Frühherbstes, wo das Leben auf der Straße erträglich ist, folgen bitterkalte Winternächte, in denen viele Obdachlose ohne die Hilfe sozialer Einrichtungen nicht überleben würden. Die Menschen auf der Straße hüten, auch wenn sie von sozialen Abgründen handeln, ihre Geschichten. In Ermangelung einer Wohnung sind es diese Lebensgeschichten, die zumindest einen Vorstellungsraum eröffnen, der einem gehört, der einen inmitten der Lebensstürme ortsfest macht.
Der Blick der Filmemacherinnen und Filmemacher ist nie aufdringlich; das beschädigte Leben, das ähnlich wie jedes halbwegs geglückte Leben seine Rituale und Eigenheiten kennt, wird nie ausgestellt, der Blick der Kamera bleibt sachlich und wohlwollend neugierig. Nationale und kulturelle Differenzen der Protagonisten werden gezeigt, aber nicht gewertet. Im Abspann sind alle Protagonisten in alphabetischer Reihenfolge angeführt, slawische Namen erscheinen korrekt samt diakritischen Zeichen. Bei einigen steht nach dem Vaternamen ein Kreuz, was so manche Frage nach dem Schicksal der Wohnungslosen, unter denen sich schwerkranke Personen befinden, auf drastische Weise beantwortet.
Eine Stärke des Films sind die lakonischen Dialoge und Erzählungen der Menschen ohne Wohnung. Einige kämpfen, mit dem Rücken zur Wand stehend, gegen die Niedertracht allzu vieler Sozialbehörden. So eine bewundernswert starke Frau, die Beamte, die beharrendes Nachfragen nach gesetzlichen Regelungen als Querulantentum missverstehen, meidet, weil sie erfahren musste, dass diese Zerberusse mit den Waffen des vielfach Stärkeren auf das kleine Leben der Klienten so lange hintreten, bis diese in den sozialen Tod getrieben werden.
Immer wieder fährt sie mit dem städtischen Bus in den Wienerwald, dort hat sie eine Art Freiluftwohnung, wo sie ihre Tiere und Pflanzen trifft. Meine Familie, sagt sie, und sie sagt das trotzig und stolz. Eine Familie zu haben, ist unter den Deklassierten ein hehres Ziel, meist gehen Partner- und Wohnungsverlust Hand in Hand. Nur die wenigsten schaffen es, eine Beziehung aufrechtzuerhalten. Auch das schwer beschädigte Leben spiegelt den Traum von einer gelungenen Existenz wider.
Die Protagonisten des gelassenen und genauen Films artikulieren langsam und mit Bedacht, wie überhaupt die Sprache der Wohnungslosen erstaunt und beschämt. Entgegen aller Klischees ist sie variantenreich, auch im Dialekt souverän und mit dem Gestus von Menschen behaftet, die alles gesehen haben und dennoch nicht wegschauen. Gewissenhaft forschen sie in Abfallbehältern nach Pfandflaschen und freuen sich über ein freundliches Wort einer Mitarbeiterin der „Gruft“, die für Kleidung und Essen sorgt und bei der Körperpflege hilft. Auch hier: kein voyeuristischer Blick, nur die Nacktheit und Würde eines gebeugten Leibes. Die Akkuratesse, mit der der alte Mann nach einer gewaschenen Unterhose greift, erzählt viel über die Würde von Menschen, denen man diesen letzten Schutzmantel des Menschseins immer wieder abspricht.
Einst Unteroffizier beim Bundesheer, floh der Alte, der aussieht wie ein mongolischer Hirte, in den späten Fünfzigerjahren zur Fremdenlegion und diente dort fünf lange, fürchterliche Jahre. Nun ist er schwach und hilfsbedürftig, „aber noch halte ich das Leben auf der Straße durch“, sagt er, und es klingt Verwunderung in seiner Stimme mit, dass er es so lange geschafft hat. Die Art und Weise, wie er dem Unvermeidlichen begegnet, hat eine Botschaft, sie lautet: Es könnte auch anders sein, täuscht euch nicht, noch ist mit mir zu rechnen!
Auch das ist ein Vorzug des unsentimentalen und empathischen Films: Er reißt die Lebensgeschichten klug an, hütet sich aber, sie auszubreiten. Die Filmemacherinnen und Filmemacher wissen, dass sie den Porträtierten damit zu nahe kämen.
Unter der Brücke, Morgendämmerung. Ein Mann in den Zwanzigern führt eine doppelt so alte, zarte, gebrechliche Frau zu einem klapprigen Rollstuhl und schiebt sie zu ihrer Arbeitsstelle, einem Platz neben einer Brücke über den Wienfluss. Dort bettelt sie, dick in eine Decke eingewickelt, eine Kapuze über die Ohren gezogen, ihre Vormittagsschicht. Ihre schwache Stimme müht sich mit immer demselben Wort ab, mit dem sie Kindern zulächelt und um eine Spende bittet. Es muss ein slowakisches Wort sein, denn die beiden, die sich vor Jahren in der Schweiz kennenlernten, stammen aus der Slowakei. „Ich musste mich wärmen“, sagt sie, „da bin ich zu ihm in den Schlafsack. So haben wir uns geliebt, und dann ging es weiter. Vor zwei Jahren, am 16. Mai, haben wir geheiratet“, fügt sie hinzu. Sie hat lange brünette Haare, und ihre Augen leuchten, wenn sie zwischen den Hustenanfällen lächelt. „Ich bin siebenundvierzig und dünn. Meist gehen die Frauen ja auseinander, wenn sie in diesem Alter sind, aber ich bin immer noch dünn. Man sagt, Mai-Ehen sind unglücklich, aber ich glaube, wir beide werden es schaffen. Er ist ja zwanzig Jahre jünger, obwohl der Alkohol ihm zusetzt.“Über die Frage, wie sie auf die Straße gekommen sei, entbrennt ein Streit. Er brüllt sie an, sie lächelt das unberührte Lächeln einer Bauernmadonna.