Zweite EU-Abstimmung wird möglich
Brexit. Der Kurswechsel der Labour-Opposition erhöht den Druck auf die bisherige Austrittslinie der britischen Premierministerin Theresa May. Neuwahlen sind trotz Dementis nicht ausgeschlossen.
London. Ein dramatischer Kurswechsel der britischen Labour Party rückt erstmals ein neues EU-Referendum in Großbritannien in den Bereich des Möglichen. Sollten die Mitglieder der führenden Oppositionspartei auf dem gestern, Sonntag, eröffneten Parteitag einen entsprechenden Beschluss fassen, werde sich die Führung daran „gebunden“sehen, erklärte Labour-Chef Jeremy Corbyn. Ein derartiger Antrag wird mit Sicherheit angenommen werden: 86 Prozent der LabourMitglieder wollen Umfragen zufolge ein neues EU-Referendum.
Labour hatte bisher der Forderung nach Neuwahlen gegenüber einer neuen EUVolksabstimmung den Vorrang gegeben. Das trug der Partei insbesondere von EUfreundlichen Vertretern der Parteimitte den Vorwurf ein, das Parteiwohl über Staatsinteressen zu stellen. „Wenn sich Labour aus taktischen Überlegungen zu einem Komplizen des Brexits macht, ist die Partei für immer erledigt“, warnte Ex-Minister Andrew Adonis. Über der Konferenz in Liverpool schwebt das Gespenst der Parteispaltung.
Eine Neubestimmung von Labours Brexit-Position ist deshalb von entscheidender Bedeutung, weil die Regierung von Premierministerin Theresa May im Parlament mit 650 Sitzen nicht nur keine Mehrheit hat, sondern ihre konservative Partei in dieser Frage in offenem Konflikt steht. Die aktuelle Regierungsposition, das sogenannte Chequers-Papier, lehnen in der Fraktion von 315 Tory-Abgeordneten zwischen 40 und 80 Anti-EU-Hardliner ab. Umgekehrt gibt es eine stabile Gruppe von 15 bis 20 proeuropäischen konservativen Rebellen, die ebenfalls genug Stimmen haben, um gemeinsam mit der Opposition jede Regierungsvorlage zu Fall zu bringen.
Die Regierung hat dem Parlament eine Abstimmung über das Ergebnis der EU-Verhandlungen zugestanden. Corbyn machte gestern klar, dass eine Zustimmung durch Labour „nur erfolgen wird, wenn unsere sechs Kriterien erfüllt sind“. Dazu gehören der Verbleib in der EU-Zollunion und eine Irland-Lösung ohne harte Grenze. In beiden Knackpunkten gibt es derzeit keine Annäherung, wie zuletzt der EU-Gipfel in Salzburg deutlich machte. Dennoch betonte BrexitMinister Dominic Raab gestern das Festhalten Londons am Chequers-Papier: „Wir werden uns nichts diktieren lassen. Wir haben seriöse Vorschläge gemacht und werden jetzt nicht von Plan zu Plan flattern wie ein diplomatischer Schmetterling.“
Weg führt nur über Neuwahlen
Zugleich trat sowohl Raab als auch das Amt von Premierministerin May Gerüchten über vorgezogene Neuwahlen entgegen. Das sei „völliger Unsinn“, hieß es, nachdem die „Mail on Sunday“einen anonymen Kabinettsmitarbeiter mit den Worten zitiert hatte: „Eine Neuwahl ist der einzige Weg, die Arithmetik im Parlament in unsere Richtung zu bewegen.“Der Parteitag der Konservativen in einer Woche wird für May allerdings zu einer Schicksalsfrage. Corbyn betonte, Labour sei zu Neuwahlen „absolut bereit“.
Doch auch seine Partei ist zum Brexit weiter gespalten. 40 Prozent der LabourWähler hatten im Juni 2016 für den EU-Austritt gestimmt, dogmatische Linke wie Corbyn, die heute die Parteilinie bestimmen, sehen die EU mehr als eine Konspiration des Staatsmonopolkapitalimus zur Ausbeutung des Proletariats als eine Vereinigung der Völker Europas für Frieden und Wohlstand. Der einflussreiche Gewerkschaftsboss Len McCluskey sagte zu einem neuen EU-Refe- rendum: „Eine Fortsetzung der EU-Mitgliedschaft sollte nicht zur Abstimmung stehen.“
Der Ausgang eines Referendums wäre unsicher. Zwar zeigten Umfragen zuletzt einen klaren Schwenk zugunsten eines Verbleibs mit 59:41 Prozent, doch sahen die Umfragen vor der Abstimmung 2016 auch anders aus als das Ergebnis. Premierministerin May hat eine zweite Volksabstimmung ausgeschlossen: „Der Wille des Volkes muss umgesetzt werden.“Das bedeutet, dass der Weg zu einer neuen Volksabstimmung nur über eine Neuwahl führt. Diese nannte auch Corbyn seine „Priorität“. Ein hochrangiger Tory aber meint: „Bevor wir Corbyn in die Downing Street lassen, könnte ein Referendum unsere letzte Trumpfkarte sein.“