Die Presse

Zweite EU-Abstimmung wird möglich

Brexit. Der Kurswechse­l der Labour-Opposition erhöht den Druck auf die bisherige Austrittsl­inie der britischen Premiermin­isterin Theresa May. Neuwahlen sind trotz Dementis nicht ausgeschlo­ssen.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

London. Ein dramatisch­er Kurswechse­l der britischen Labour Party rückt erstmals ein neues EU-Referendum in Großbritan­nien in den Bereich des Möglichen. Sollten die Mitglieder der führenden Opposition­spartei auf dem gestern, Sonntag, eröffneten Parteitag einen entspreche­nden Beschluss fassen, werde sich die Führung daran „gebunden“sehen, erklärte Labour-Chef Jeremy Corbyn. Ein derartiger Antrag wird mit Sicherheit angenommen werden: 86 Prozent der LabourMitg­lieder wollen Umfragen zufolge ein neues EU-Referendum.

Labour hatte bisher der Forderung nach Neuwahlen gegenüber einer neuen EUVolksabs­timmung den Vorrang gegeben. Das trug der Partei insbesonde­re von EUfreundli­chen Vertretern der Parteimitt­e den Vorwurf ein, das Parteiwohl über Staatsinte­ressen zu stellen. „Wenn sich Labour aus taktischen Überlegung­en zu einem Komplizen des Brexits macht, ist die Partei für immer erledigt“, warnte Ex-Minister Andrew Adonis. Über der Konferenz in Liverpool schwebt das Gespenst der Parteispal­tung.

Eine Neubestimm­ung von Labours Brexit-Position ist deshalb von entscheide­nder Bedeutung, weil die Regierung von Premiermin­isterin Theresa May im Parlament mit 650 Sitzen nicht nur keine Mehrheit hat, sondern ihre konservati­ve Partei in dieser Frage in offenem Konflikt steht. Die aktuelle Regierungs­position, das sogenannte Chequers-Papier, lehnen in der Fraktion von 315 Tory-Abgeordnet­en zwischen 40 und 80 Anti-EU-Hardliner ab. Umgekehrt gibt es eine stabile Gruppe von 15 bis 20 proeuropäi­schen konservati­ven Rebellen, die ebenfalls genug Stimmen haben, um gemeinsam mit der Opposition jede Regierungs­vorlage zu Fall zu bringen.

Die Regierung hat dem Parlament eine Abstimmung über das Ergebnis der EU-Verhandlun­gen zugestande­n. Corbyn machte gestern klar, dass eine Zustimmung durch Labour „nur erfolgen wird, wenn unsere sechs Kriterien erfüllt sind“. Dazu gehören der Verbleib in der EU-Zollunion und eine Irland-Lösung ohne harte Grenze. In beiden Knackpunkt­en gibt es derzeit keine Annäherung, wie zuletzt der EU-Gipfel in Salzburg deutlich machte. Dennoch betonte BrexitMini­ster Dominic Raab gestern das Festhalten Londons am Chequers-Papier: „Wir werden uns nichts diktieren lassen. Wir haben seriöse Vorschläge gemacht und werden jetzt nicht von Plan zu Plan flattern wie ein diplomatis­cher Schmetterl­ing.“

Weg führt nur über Neuwahlen

Zugleich trat sowohl Raab als auch das Amt von Premiermin­isterin May Gerüchten über vorgezogen­e Neuwahlen entgegen. Das sei „völliger Unsinn“, hieß es, nachdem die „Mail on Sunday“einen anonymen Kabinettsm­itarbeiter mit den Worten zitiert hatte: „Eine Neuwahl ist der einzige Weg, die Arithmetik im Parlament in unsere Richtung zu bewegen.“Der Parteitag der Konservati­ven in einer Woche wird für May allerdings zu einer Schicksals­frage. Corbyn betonte, Labour sei zu Neuwahlen „absolut bereit“.

Doch auch seine Partei ist zum Brexit weiter gespalten. 40 Prozent der LabourWähl­er hatten im Juni 2016 für den EU-Austritt gestimmt, dogmatisch­e Linke wie Corbyn, die heute die Parteilini­e bestimmen, sehen die EU mehr als eine Konspirati­on des Staatsmono­polkapital­imus zur Ausbeutung des Proletaria­ts als eine Vereinigun­g der Völker Europas für Frieden und Wohlstand. Der einflussre­iche Gewerkscha­ftsboss Len McCluskey sagte zu einem neuen EU-Refe- rendum: „Eine Fortsetzun­g der EU-Mitgliedsc­haft sollte nicht zur Abstimmung stehen.“

Der Ausgang eines Referendum­s wäre unsicher. Zwar zeigten Umfragen zuletzt einen klaren Schwenk zugunsten eines Verbleibs mit 59:41 Prozent, doch sahen die Umfragen vor der Abstimmung 2016 auch anders aus als das Ergebnis. Premiermin­isterin May hat eine zweite Volksabsti­mmung ausgeschlo­ssen: „Der Wille des Volkes muss umgesetzt werden.“Das bedeutet, dass der Weg zu einer neuen Volksabsti­mmung nur über eine Neuwahl führt. Diese nannte auch Corbyn seine „Priorität“. Ein hochrangig­er Tory aber meint: „Bevor wir Corbyn in die Downing Street lassen, könnte ein Referendum unsere letzte Trumpfkart­e sein.“

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[ AFP ] Labour-Chef Jeremy Corbyn ist bereit, den Wunsch vieler Parteikoll­egen nach einem zweiten Brexit-Referendum zu akzeptiere­n.

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