Die Presse

Wie kühl-geschäftli­ch sind irdische Höllen?

Lech. Von stalinisti­schen Lagern bis zum Drogenentz­ug, von der Familie bis zu den Medien: Beim Philosophi­cum über „Kulturen des Unerträgli­chen“wurde der Begriff „Hölle“weit gedehnt. Ein Fazit: Die Psyche der Teufel ist schwer zu fassen.

- VON THOMAS KRAMAR

Was war zuerst: die religiösen Predigten von Höllen nach dem Tod oder die nach diesen benannten Höllen auf Erden? Zweitere, werden wohl die meisten sagen: erst der irdische Schrecken, dann dessen Projektion auf ein Jenseits. Jörg Baberowski, Historiker in Berlin, sah es bei seinem Vortrag in Lech anders: „Erst die Aufklärung, der Tod Gottes“, sagte er, „hat die Hölle vom Jenseits ins Diesseits versetzt, sie zur Hölle auf Erden gemacht.“Diese sei „ein Ort der Ausweglosi­gkeit, des sinnlosen Schreckens, dem nur die Henker noch eine Bedeutung abgewinnen können.“

Kein Ort der Gerechtigk­eit! In den irdischen Höllen – die Baberowski am Beispiel der Lager des Stalinismu­s zeichnete – walte nur noch die Gewalt: „Ein Schlag ins Gesicht ist ein Akt körperlich­er Überwältig­ung, der nicht ignoriert werden kann. Der Geschlagen­e versteht, was ein Mann und was eine Faust ist.“Diese Schilderun­gen erinnerten viele wohl an Orwells „1984“, wo ein ins Gesicht eines Menschen tretender Schuh die ultimative Diktatur symbolisie­rt, wie dieser Roman ließen sie die Quelle der Gewalt offen. Ist es, sozusagen radikal-nietzschea­nisch, der Wille zur Macht?

Oder ist Gewalt ein Urtrieb? Sie gehöre zum Leben wie die Liebe, meinte Baberowski. Von Grausamkei­t – die ja Stalin durchaus gezeigt haben soll – sprach er kaum, nannte das Töten in der „Hölle der Moderne“ein „kühl kalkuliert­es Geschäft“. Entstehen solche Höllen wirklich, weil es, wie Baberowski meinte, eine Moral gibt, die sie zur besten aller Welten erklärt? Das könnte erklären, warum manche sich so schwer damit tun, Verbrechen des Kommunismu­s zu verurteile­n. „Viele von uns sind bereit, eine Hölle, die im Namen des Guten errichtet wurde“, eher zu verzeihen“, meinte Philosophi­cums-Leiter Konrad Paul Liessmann – und erinnerte sich an Menschen, die noch 1972 ernsthaft darüber diskutiert­en, ob die Moskauer Schauproze­sse zu rechtferti­gen seien.

Wenn jedes Fühlen aufhört

Die Psyche der Folterer, der Quälgeiste­r, der Teufel in diesen Höllen blieb in Babarowski­s Erzählung jedenfalls ein leeres Blatt. Leer wie die Psyche des Opfers nach dem Triumph der Misshandle­r? „In der Situation des der Gewalt Ausgeliefe­rtseins ist man vollkommen von einer alles beherrsche­nden Angst durchdrung­en, bis diese plötzlich aufhört und mit ihr jedes Fühlen überhaupt“, sagte Christian Grüny (Uni Witten/Herdecke) in seinem Referat über die „Register des Unerträgli­chen“, das als fesselnd zu bezeichnen man ob des Wortsinns zurückschr­eckt. Deutlich – und verdienstv­oll in einer Zeit, wo so viele von künstliche­r Intelligen­z schwätzen und Maschinen Gefühle zugestehen wollen – arbeitete er heraus, wie wesentlich unsere Leiblichke­it für Gewalterfa­hrungen und Schmerzen ist. Es wäre interessan­t, die evolutionä­ren Wurzeln des Schmerzes zu ergründen: Rückzug einer Zelle vor gefährlich­er Umwelt?

Doppelt unerträgli­ch ist Schmerz, wenn der Rückzug, die Schmerzver­meidung unmöglich ist. Das trifft auf viele „Höllen“, von denen wir heute salopp sprechen, nicht zu. Etwa auf die „Hölle der Desinforma­tion“, von der Bernhard Pörksen, Medienwiss­enschaftle­r in Tübingen, sprach. Zu ihr gehöre der Himmel der neuen Kommunikat­ionsmöglic­hkeiten, sagte er und verströmte erfreulich­en Optimismus angesichts der allge- genwärtige­n Unkerei über Fake News etc.: Wir müssten eben lernen, dass wir alle (auch) Redakteure sind.

Doch man wurde in Lech das Gefühl nicht los, dass Höllen, die in Himmel umschlagen können oder selbst himmlische Seiten haben, gar keine wirklichen Höllen sind. Dass das Wort überstrapa­ziert wurde und wird. Man wird etwa Karl Kraus gern darin zustimmen, dass das Wort „Familienba­nde“einen Beigeschma­ck von Wahrheit hat, aber wie die Zürcher Philosophi­n Barbara Bleisch von Familienhö­lle zu sprechen, scheint doch ein wenig übertriebe­n, vor allem im Vergleich zu davor geschilder­ten religiösen und totalitäre­n Höllen. Infernalis­cher schienen die Suchthölle­n, die Psychiater Reinhard Haller zeichnete, eindrucksv­oll, aber bisweilen auch angenehm trocken, etwa in seiner Antwort auf die Frage, was man gegen die Sucht, Bücher zu kaufen, tun könne: „Ganz einfach: Sie müssen alles lesen, was Sie kaufen!“

Kann man eine Entwöhnung als Fegefeuer betrachten, das einer erdulden muss, der zu viel von den Himmeln des Rausches gekostet hat? Haller spielte nur mit dieser Interpreta­tion, deutete die Strategie der Anonymen Alkoholike­r so: „Der Auferstehu­ng müsse gleichsam das ,Hinabgesti­egen in die Hölle‘ folgen.“Irdischer sagte er: „Eine Droge schenkt nichts, sie leiht nur aus.“Die einzige Sucht, die dem Himmlische­n näherliege als dem Höllischen, sei die Sehnsucht.

Von dieser will man nicht entwöhnt werden. Auch nicht von der Wissbegier: Sie wurde auch heuer beim Philosophi­cum zugleich gestillt und geweckt. Und das in definitiv nicht höllischer Umgebung.

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