Wie kühl-geschäftlich sind irdische Höllen?
Lech. Von stalinistischen Lagern bis zum Drogenentzug, von der Familie bis zu den Medien: Beim Philosophicum über „Kulturen des Unerträglichen“wurde der Begriff „Hölle“weit gedehnt. Ein Fazit: Die Psyche der Teufel ist schwer zu fassen.
Was war zuerst: die religiösen Predigten von Höllen nach dem Tod oder die nach diesen benannten Höllen auf Erden? Zweitere, werden wohl die meisten sagen: erst der irdische Schrecken, dann dessen Projektion auf ein Jenseits. Jörg Baberowski, Historiker in Berlin, sah es bei seinem Vortrag in Lech anders: „Erst die Aufklärung, der Tod Gottes“, sagte er, „hat die Hölle vom Jenseits ins Diesseits versetzt, sie zur Hölle auf Erden gemacht.“Diese sei „ein Ort der Ausweglosigkeit, des sinnlosen Schreckens, dem nur die Henker noch eine Bedeutung abgewinnen können.“
Kein Ort der Gerechtigkeit! In den irdischen Höllen – die Baberowski am Beispiel der Lager des Stalinismus zeichnete – walte nur noch die Gewalt: „Ein Schlag ins Gesicht ist ein Akt körperlicher Überwältigung, der nicht ignoriert werden kann. Der Geschlagene versteht, was ein Mann und was eine Faust ist.“Diese Schilderungen erinnerten viele wohl an Orwells „1984“, wo ein ins Gesicht eines Menschen tretender Schuh die ultimative Diktatur symbolisiert, wie dieser Roman ließen sie die Quelle der Gewalt offen. Ist es, sozusagen radikal-nietzscheanisch, der Wille zur Macht?
Oder ist Gewalt ein Urtrieb? Sie gehöre zum Leben wie die Liebe, meinte Baberowski. Von Grausamkeit – die ja Stalin durchaus gezeigt haben soll – sprach er kaum, nannte das Töten in der „Hölle der Moderne“ein „kühl kalkuliertes Geschäft“. Entstehen solche Höllen wirklich, weil es, wie Baberowski meinte, eine Moral gibt, die sie zur besten aller Welten erklärt? Das könnte erklären, warum manche sich so schwer damit tun, Verbrechen des Kommunismus zu verurteilen. „Viele von uns sind bereit, eine Hölle, die im Namen des Guten errichtet wurde“, eher zu verzeihen“, meinte Philosophicums-Leiter Konrad Paul Liessmann – und erinnerte sich an Menschen, die noch 1972 ernsthaft darüber diskutierten, ob die Moskauer Schauprozesse zu rechtfertigen seien.
Wenn jedes Fühlen aufhört
Die Psyche der Folterer, der Quälgeister, der Teufel in diesen Höllen blieb in Babarowskis Erzählung jedenfalls ein leeres Blatt. Leer wie die Psyche des Opfers nach dem Triumph der Misshandler? „In der Situation des der Gewalt Ausgeliefertseins ist man vollkommen von einer alles beherrschenden Angst durchdrungen, bis diese plötzlich aufhört und mit ihr jedes Fühlen überhaupt“, sagte Christian Grüny (Uni Witten/Herdecke) in seinem Referat über die „Register des Unerträglichen“, das als fesselnd zu bezeichnen man ob des Wortsinns zurückschreckt. Deutlich – und verdienstvoll in einer Zeit, wo so viele von künstlicher Intelligenz schwätzen und Maschinen Gefühle zugestehen wollen – arbeitete er heraus, wie wesentlich unsere Leiblichkeit für Gewalterfahrungen und Schmerzen ist. Es wäre interessant, die evolutionären Wurzeln des Schmerzes zu ergründen: Rückzug einer Zelle vor gefährlicher Umwelt?
Doppelt unerträglich ist Schmerz, wenn der Rückzug, die Schmerzvermeidung unmöglich ist. Das trifft auf viele „Höllen“, von denen wir heute salopp sprechen, nicht zu. Etwa auf die „Hölle der Desinformation“, von der Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler in Tübingen, sprach. Zu ihr gehöre der Himmel der neuen Kommunikationsmöglichkeiten, sagte er und verströmte erfreulichen Optimismus angesichts der allge- genwärtigen Unkerei über Fake News etc.: Wir müssten eben lernen, dass wir alle (auch) Redakteure sind.
Doch man wurde in Lech das Gefühl nicht los, dass Höllen, die in Himmel umschlagen können oder selbst himmlische Seiten haben, gar keine wirklichen Höllen sind. Dass das Wort überstrapaziert wurde und wird. Man wird etwa Karl Kraus gern darin zustimmen, dass das Wort „Familienbande“einen Beigeschmack von Wahrheit hat, aber wie die Zürcher Philosophin Barbara Bleisch von Familienhölle zu sprechen, scheint doch ein wenig übertrieben, vor allem im Vergleich zu davor geschilderten religiösen und totalitären Höllen. Infernalischer schienen die Suchthöllen, die Psychiater Reinhard Haller zeichnete, eindrucksvoll, aber bisweilen auch angenehm trocken, etwa in seiner Antwort auf die Frage, was man gegen die Sucht, Bücher zu kaufen, tun könne: „Ganz einfach: Sie müssen alles lesen, was Sie kaufen!“
Kann man eine Entwöhnung als Fegefeuer betrachten, das einer erdulden muss, der zu viel von den Himmeln des Rausches gekostet hat? Haller spielte nur mit dieser Interpretation, deutete die Strategie der Anonymen Alkoholiker so: „Der Auferstehung müsse gleichsam das ,Hinabgestiegen in die Hölle‘ folgen.“Irdischer sagte er: „Eine Droge schenkt nichts, sie leiht nur aus.“Die einzige Sucht, die dem Himmlischen näherliege als dem Höllischen, sei die Sehnsucht.
Von dieser will man nicht entwöhnt werden. Auch nicht von der Wissbegier: Sie wurde auch heuer beim Philosophicum zugleich gestillt und geweckt. Und das in definitiv nicht höllischer Umgebung.