Ein russischer Liberaler verliert seinen Glauben – und ich auch
Seltsam. Ein russischer Liberaler und ein österreichischer Konservativer vergleichen, wer größere Freiheiten genießt.
E s gibt wohl kein besseres Heilmittel gegen Russophilie als eine Russland-Reise. Ich weiß, wovon ich rede, ich halte mich seit zwei Wochen in der Russischen Föderation auf. Auch wenn ich die Praxis des Putinismus nie verteidigt habe, so übt ein Staat mit einer konservativen Staatsdoktrin auf einen Konservativen doch eine gewisse Anziehungskraft aus. Die russische Realität ernüchtert, anstelle von christlich fundiertem Wertkonservativismus findet man eher borniertes Spießertum. Die Ernüchterung ist dabei eine beidseitige: Ich fürchte, ich habe einem russischen Liberalen seinen Glauben an die Liberalität der westlichen Demokratie geraubt.
Dieser alte russische Intellektuelle war ein Liberaler aus dem Bilderbuch. Er trug einen hellen Dandy-Anzug und ein fein geschnittenes Kavaliersbärtchen. Er stellte genau den Typus dar, auf den die Erfinder des Konzepts der „liberalen Demokratie“wohl vertrauten. Schon die großen griechischen Denker sahen ja die Gefahr, dass die Demokratie leicht in eine rohe Diktatur der Mehrheit ausarten kann. Sowohl der irrsinnige Feldzug Athens gegen Syrakus als auch das Todesurteil für Sokrates waren Ergebnisse demokratischer Abstimmungen gewesen. Ich vermute, die angelsächsische Neuauflage der Demokratie versuchte, eine Reißleine dagegen einzuziehen – den Liberalismus. Man sah dabei wohl den englischen Gentleman vor sich, der mit bockigem Individualismus auf seine Freiheiten besteht. Ich musste an die untere Wolga fahren, um so ein Exemplar in Reinkultur zu finden.
Der witzige russische Liberale erzählte mir, dass er eine Arbeit über den „Genderaspekt“eines gewissen Themas verfasst habe. Er strahlte dabei wie ein Lausbub, der seinen schlimmsten Streich gesteht. Eine Veröffentlichung in Russland erwog er nicht einmal. Gender, das ist Kampfbegriff, der im Westen Karrieren antreibt und der sie in Russland beendet. Dann erzählte ich ihm meine Geschichte. Wie froh ich sein muss, dass mich eine österreichische Qualitätszeitung konservative Kommentare schreiben lässt. Wie hart die auf mich einprasselnden Attacken sind, wie spürbar die soziale Ausgrenzung. Er starrte mich mit geweiteten Augen an. Der Satz, den er spontan ausrief, zog mir die Schuhe aus: „Wenn ich Sie wäre, würde ich in ein anderes Land ziehen.“D as war ein seltsamer Moment. Da saßen ein russischer Liberaler und ein österreichischer Konservativer zusammen – der Liberale würde in Österreich als Konservativer angesehen, der Konservative in Russland als Liberaler – und verglichen, wer die größeren Freiheiten genießt. Wir einigten uns darauf, von einem Land zu träumen, in dem alle frei ihre Meinung sagen können.
Ans Auswandern hatte ich überhaupt nicht gedacht. Wenn doch, wäre Russland wohl kaum das Land der Wahl. Ich gehe hier auch meiner Arbeit als freier Reporter nach und werde vollkommen abgeblockt. Es gibt keine einzige russische Behörde, die auf meine Anfragen reagiert. Nur zum Vergleich: Die viel gescholtenen europäischen Institutionen antworten innerhalb weniger Tage auf jede Anfrage, und die Europäische Kommission ist die einzige Regierung der Welt, die jeden Werktag vor Journalisten Rechenschaft ablegt. Die Moskauer Zentrale der Eurasischen Union habe ich nun einen Monat lang umschmeichelt, sie antwortet nicht einmal. Auch wenn ich weiß, dass mich zu Hause nichts Gutes erwartet, sehne ich mich doch zurück.