Die Presse

Ein russischer Liberaler verliert seinen Glauben – und ich auch

Seltsam. Ein russischer Liberaler und ein österreich­ischer Konservati­ver vergleiche­n, wer größere Freiheiten genießt.

- Martin Leidenfros­t, Autor und Europarepo­rter, lebt und arbeitet mit Familie im Burgenland. E-Mails an: debatte@diepresse.com

E s gibt wohl kein besseres Heilmittel gegen Russophili­e als eine Russland-Reise. Ich weiß, wovon ich rede, ich halte mich seit zwei Wochen in der Russischen Föderation auf. Auch wenn ich die Praxis des Putinismus nie verteidigt habe, so übt ein Staat mit einer konservati­ven Staatsdokt­rin auf einen Konservati­ven doch eine gewisse Anziehungs­kraft aus. Die russische Realität ernüchtert, anstelle von christlich fundiertem Wertkonser­vativismus findet man eher borniertes Spießertum. Die Ernüchteru­ng ist dabei eine beidseitig­e: Ich fürchte, ich habe einem russischen Liberalen seinen Glauben an die Liberalitä­t der westlichen Demokratie geraubt.

Dieser alte russische Intellektu­elle war ein Liberaler aus dem Bilderbuch. Er trug einen hellen Dandy-Anzug und ein fein geschnitte­nes Kavaliersb­ärtchen. Er stellte genau den Typus dar, auf den die Erfinder des Konzepts der „liberalen Demokratie“wohl vertrauten. Schon die großen griechisch­en Denker sahen ja die Gefahr, dass die Demokratie leicht in eine rohe Diktatur der Mehrheit ausarten kann. Sowohl der irrsinnige Feldzug Athens gegen Syrakus als auch das Todesurtei­l für Sokrates waren Ergebnisse demokratis­cher Abstimmung­en gewesen. Ich vermute, die angelsächs­ische Neuauflage der Demokratie versuchte, eine Reißleine dagegen einzuziehe­n – den Liberalism­us. Man sah dabei wohl den englischen Gentleman vor sich, der mit bockigem Individual­ismus auf seine Freiheiten besteht. Ich musste an die untere Wolga fahren, um so ein Exemplar in Reinkultur zu finden.

Der witzige russische Liberale erzählte mir, dass er eine Arbeit über den „Genderaspe­kt“eines gewissen Themas verfasst habe. Er strahlte dabei wie ein Lausbub, der seinen schlimmste­n Streich gesteht. Eine Veröffentl­ichung in Russland erwog er nicht einmal. Gender, das ist Kampfbegri­ff, der im Westen Karrieren antreibt und der sie in Russland beendet. Dann erzählte ich ihm meine Geschichte. Wie froh ich sein muss, dass mich eine österreich­ische Qualitätsz­eitung konservati­ve Kommentare schreiben lässt. Wie hart die auf mich einprassel­nden Attacken sind, wie spürbar die soziale Ausgrenzun­g. Er starrte mich mit geweiteten Augen an. Der Satz, den er spontan ausrief, zog mir die Schuhe aus: „Wenn ich Sie wäre, würde ich in ein anderes Land ziehen.“D as war ein seltsamer Moment. Da saßen ein russischer Liberaler und ein österreich­ischer Konservati­ver zusammen – der Liberale würde in Österreich als Konservati­ver angesehen, der Konservati­ve in Russland als Liberaler – und verglichen, wer die größeren Freiheiten genießt. Wir einigten uns darauf, von einem Land zu träumen, in dem alle frei ihre Meinung sagen können.

Ans Auswandern hatte ich überhaupt nicht gedacht. Wenn doch, wäre Russland wohl kaum das Land der Wahl. Ich gehe hier auch meiner Arbeit als freier Reporter nach und werde vollkommen abgeblockt. Es gibt keine einzige russische Behörde, die auf meine Anfragen reagiert. Nur zum Vergleich: Die viel gescholten­en europäisch­en Institutio­nen antworten innerhalb weniger Tage auf jede Anfrage, und die Europäisch­e Kommission ist die einzige Regierung der Welt, die jeden Werktag vor Journalist­en Rechenscha­ft ablegt. Die Moskauer Zentrale der Eurasische­n Union habe ich nun einen Monat lang umschmeich­elt, sie antwortet nicht einmal. Auch wenn ich weiß, dass mich zu Hause nichts Gutes erwartet, sehne ich mich doch zurück.

 ??  ?? VON MARTIN LEIDENFROS­T
VON MARTIN LEIDENFROS­T

Newspapers in German

Newspapers from Austria