Bleierne Töne, bleierne Zeiten
„Expedition Europa“: bei Russlands schweigender Jugend.
Ich reise durch Russland. Ich mache halt in Moskau, Wolgograd, Kalmückien, Magnitogorsk, Baschkirien, Jekaterinburg. Ich durchquere Wälder, Äcker, Steppen und schreibe diese Zeilen mit Blick auf herbstlich lichte westsibirische Birkenwälder. Meine Arbeit besteht darin, Lesungen vor russischen Studierenden zu halten. Das verschafft mir einige Eindrücke von der russischen Jugend.
Einmal stoße ich auf eine Veranstaltung der Regimejugend, und zwar in der kalmückischen Hauptstadt Elista, vor der Reihenhaussiedlung „Chess City“. Die Jungen, mit denen ich an den Abenden zusammensitze, mögen die Regierung nicht. Sie sprechen in einem bleiernen Ton von einer bleiernen Zeit. Viele müssen schon während des Studiums hart arbeiten. Eine sagt: „Wir sind alle im Rahmen.“
Meine letzte Russlandreise liegt sieben Jahre zurück. Seit 2014 gibt es Krieg und Sanktionen, die im russischen Fernsehen verkündete Renationalisierung macht mich neugierig. Ich hielte sie in manchem sogar für vernünftig, 2011 hat man in vielen russischen Lokalen kein russisches Mineralwasser bekommen. 2018 kriege ich russisches Wasser, doch im Design, in der Kleidung und in der Hipster-Gastronomie der jungen Leute ist mehr Englisch und westliche Popkultur denn je. Der Sushi-Trend ist abgeklungen zugunsten pseudobayrischer Bierstuben mit englischer Beschallung. Orientierung nach Eurasien? Ein Gerücht.
„Lieber nicht“, flüstert eine Stimme
Ich biete den Studierenden in meinen Lesungen an, Reportagen über das russische Großthema des Jahrzehnts zu lesen – über den Krieg im ostukrainischen Donbass. Es überrascht mich unangenehm, dass ich feindseliges Schweigen ernte. In Wolgograd flüstert eine weibliche Stimme: „Lieber nicht!“Seither frage ich mein Publikum gezielt, was das Problem mit diesem Thema ist. Nur in Moskau antwortet eine Studentin: „Von Journalisten will ich gar nichts mehr darüber lesen. Ich würde nur jemandem glauben, der selbst aus dem Donbass kommt.“
Ich gehe weiter, lese immer weniger vor, suche die Studierenden immer mehr zu Diskussionen zu provozieren. In Magnitogorsk frage ich sie geradeheraus, ob sie mir Glauben schenken, und bleibe bis zu einer Antwort schweigend sitzen. Dieses Duell verliere ich. Später sagt ein Student: „Frag, welche Organisation den Reporter einlädt, und du weißt, was er schreibt.“Ich darauf: „Mich schickt keine Organisation, ich fahre auf eigene Faust. Also glauben Sie mir?“Das Schweigen geht weiter.
Die Professorinnen sind anders. Ihre Haltungen zum Krieg sind überraschend unterschiedlich, und sie klingen fast immer durch. Eine gebraucht den Wortschatz der russischen Staatspropaganda, eine andere spricht von „Propaganda von beiden Seiten“, wieder eine andere hat „eine ganz eigene Ansicht“: „Ich habe Verwandte in Charkow, und die genießen das Leben.“Einige sagen, dieser Krieg sei ihr „wunder Punkt“, „zu schmerzhaft, um darüber zu sprechen“. Allein in den Gesichtern der Jungen sehe ich keinen Schmerz. Ich sehe nichts.
Unter den Studierenden sind nur zwei hervorgestochen: Eine Studentin sagte etwas gegen die russische TV-Propaganda. „Sie ist ein origineller Kopf“, hieß es hinterher im Lehrkörper. „Karriere macht sie natürlich keine.“Ein ungewöhnlich nachdenklicher Student spricht sich einerseits für maximale Freiheit aus, andererseits sagt er als Einziger: „Am Beginn des Krieges hatte ich als einen von vielen Gedanken, zum Kämpfen in den Donbass zu gehen. Jetzt nicht mehr.“Der Rest schweigt. Entweder sie sind gleichgültig Oder sie haben den