Alte Meister, ganz schön lebendig
Interaktive Kunst. Unis, Museen und Technologiepartner arbeiten gemeinsam an neuen Wegen, um das kulturelle Erbe Europas für Menschen mit Beeinträchtigung zugänglich zu machen. Von den Ergebnissen profitieren auch alle anderen.
Der Dieb greift schon siegessicher nach der Beute im Vogelnest, einen Arm und beide Beine fest um Stamm und Äste des Baumes geschlungen. Sein Hut ist im Fallen. Doch seine Tat bleibt nicht unbeobachtet: Ein Bauer zeigt auf den frechen Nestausnehmer. Die Szene wurde im 16. Jahrhundert von Pieter Bruegel imaginiert. Heute ist sein Gemälde im Besitz des Kunsthistorischen Museums (KHM) in Wien. Es wird ab Dienstag in der neuen BruegelSchau zu besichtigen sein – zumindest von sehenden Menschen.
Blinde Menschen müssen sich noch gedulden. Sie kommen aber verzögert in den Genuss eines Tastreliefs zu besagtem Kunstwerk. Dieses ist derzeit im Entstehen. Seine Entwicklung ist Teil des EUForschungsprojekts „Arches“, das Menschen mit besonderen Bedürfnissen den Zugang zu kulturellem Geschehen erleichtern möchte.
Mit Technik zum Kunstgenuss
Dreizehn Institutionen sind in dem mit 3,4 Mio. Euro aus dem „Horizon 2020“-Programm geförderten Projekt involviert – neben zwei britischen Unis auch sechs europäische Museen, darunter das KHM, sowie das von Wissenschafts- und Wirtschaftsministerium finanzierte Wiener VRVis, ein Forschungszentrum für Virtual Reality und Visualisierung. Mithilfe moderner Anwendungssoftware werden in dem dreijährigen Vorhaben noch bis nächsten Herbst neue multisensorische Technologien für ein barrierefreieres Kunsterleben entwickelt. Und zwar in enger Kooperation mit Menschen mit Sehbehinderung, Gehörlosigkeit oder kognitiven Einschränkungen, die ehrenamtlich ihr Praxiswissen einbringen.
Ein Herzstück von „Arches“ist je ein taktiles Gemälde für alle beteiligten Museen, das am VRVis realisiert wird. Die Gruppe der freiwilligen Teilnehmer des KHM hat sich auf das eingangs beschriebene Bruegel-Bild geeinigt. Es ist eine der letzten Kompositionen des niederländischen Malers, das auch wegen der atmosphärischen Landschaft von Bedeutung sei, sagt die KHM-Kunsthistorikerin Rotraut Krall. Sie betont, dass sie taktile Kunstwerke weder als Kopie noch als eigenständiges Kunstwerk versteht: „Ein Relief ist ein Medium, das unser Verständnis von der Komposition unterstützen kann. Sehende profitieren ebenso.“So erhalten auch ältere Menschen, Kinder und andere marginalisierte Gruppen durch das haptische Erlebnis einen Mehrwert.
Schon jetzt sind im KHM zwei in einer früheren Kooperation mit dem VRVis entstandene Reliefs ausgestellt: „Madonna im Grünen“(Raffael) und „Der ferraresische Hofnarr Gonella“(Jean Fouquet). Im „Arches“-Projekt wurden Technik und Material weiterentwickelt und verbessert. Federführend dabei ist der Informatiker und Medientechniker Andreas Reichinger vom VRVis. Die ursprüngliche Idee, den Entwicklungsprozess zu automatisieren, hat er wieder verworfen: „Ein schöner Algorithmus allein reicht bei Kunst nicht. So passiert etwa der erste Schritt im Designprozess, das pixelgenaue Segmentieren des Bildes anhand des digitalen Scans, nach wie vor manuell.“In Eigenregie hätte die Software den jeweiligen Zeichenstil nie richtig getroffen und auch die darauf aufbauende Erstellung des Tiefenprofils kommt nicht ohne das menschliche Auge aus.
Digitale Mannequins helfen
Zurück zu der Szene des Vogeleierdiebstahls. Im ersten Moment könnte man meinen, es handelt sich um eine Momentaufnahme, kurz bevor der Bursche fällt. Vertieft man sich aber in die Perspektiven, so scheint es wahrscheinlicher, dass stattdessen der Bauer in das Gewässer im Vordergrund stolpert. „Das Auge ist leicht getäuscht“, so Reichinger. „Das Gehirn erzeugt einen stimmigen Gesamteindruck, aber die digitalen Daten für ein Relief müssen in sich kohärent sein. Wir lösen das durch die Konstruktion virtueller Mannequins, mit denen wir die Szene nachstellen.“Der so entwickelte digitale Prototyp wird schließlich zum fertigen Tastbild gefräst.
Darüber hinaus entwickeln die VRVis-Forscher interaktive Inhalte für die Reliefs. Mittels Fingergesten sollen akustische Beschreibungen aktivierbar sein. Außerdem wird den Bildern Bewegung eingehaucht. Im Bruegel-Bild segelt dann etwa der Hut zu Boden. Besonders Menschen mit kognitiven Einschränkungen können so eine innigere Beziehung zum Gemälde aufbauen. „Mensch und Maschine gehen hier eine wunderbare Symbiose ein“, ist Krall überzeugt.