Die Presse

Je trister der Alltag, desto größer das Wahlplakat

Bosnien. Mysteriöse Morde, verprügelt­e Journalist­en und Politiker, die nur ihr Machterhal­t interessie­rt: Ohne echte Hoffnung auf Veränderun­g sind die Bürger am Sonntag zu Parlaments-, Präsidente­n- und Teilstaats­wahlen aufgerufen.

- Von unserem Korrespond­enten THOMAS ROSER

Kinder legen Blumen nieder. Eine Frau entzündet eine Kerze. Erst vereinzelt, dann gemeinsam skandieren Hunderte auf dem Krajina-Platz in Banja Luka mit erhobenen Fäusten die Frage, die seit über 190 Tagen jeden Abend durch die Hauptstadt des bosnischen Teilstaats der Republika Srpska hallt: „Wer hat David Dragiceviˇ­c´ getötet?“

„Gerechtigk­eit für David“prangt auf den Plakaten mit dem stilisiert­en Konterfei des Rappers mit den Rasta-Locken. Sein Sohn sei ein „normales Kind von 21 Jahren“gewesen, erzählt mit heiserer Stimme sein Vater, Davor. Der begabte Elektrotec­hnikstuden­t habe Songs geschriebe­n, Spots gedreht und „alles über IT gewusst“. Als „fröhlich, klug und tapfer“beschreibt der Kriegsvete­ran seinen Sohn: „Dieser Staat hat auf brutalste Weise mein Kind umgebracht. Ich habe nichts mehr im Leben, will nur noch die Wahrheit.“

„Gerechtigk­eit für David“nennt sich die Bewegung, die seit über einem halben Jahr gegen Mafia-Machenscha­ften und für die Aufklärung des Todes des Studenten streitet. Mehr als 350.000 Menschen zählt die Facebookgr­uppe, deren Dauerprote­st die Machthaber in der Republika Srpska angesichts der bosnischen Parlaments-, Präsidents­chaftsscha­fts- und Teilstaats­wahlen am Sonntag zunehmend nervöser werden lässt.

Der Tod von David sei einer „der vielen Morde, die in Bosnien nie aufgeklärt worden sind“, sagt auf der Terrasse des Hotels Bosnia der Analyst Srdjan Puhalo. Doch die „Untätigkei­t des Systems“, habe eine Revolte bei den kleinen Leuten hervorgeru­fen, die der Kontrolle der Machthaber entglitten sei: „Durch den Mord wird das ganze System in Zweifel gezogen.“ Platzwunde­n am malträtier­ten Körper seines toten Sohnes ließen den Vater sofort an der Version der Polizei zweifeln: „Das passte alles nicht zu David. Er wollte etwas stehlen, sprang dann in einen Bach, der bis zu den Knöcheln reicht, und ist dann ertrunken? Wer soll das glauben?“

Im Leichensch­auhaus schnitt er dem Sohn einige Haare ab – und ließ sie von einem Labor in Österreich analysiere­n: „Sie behauptete­n, dass mein Sohn ein Dieb und Drogenabhä­ngiger gewesen sei. Aber er hatte keine Spuren von Alkohol oder LSD im Körper. Sie haben von Anfang an gelogen.“

„Für eine geeinte Sprska“– ein überdimens­ioniertes Wahlplakat von Milorad Dodik prangt auf einer Fassade über den Köpfen der Demonstran­ten. Bei den Wahlen am Sonntag hofft der allgewalti­ge Präsident des Teilstaats, zum neuen serbischen Vertreter im Staatspräs­idium von Bosnien und Herzegowin­a gekürt zu werden. Die Proteste stören – und sind ein Unsicherhe­itsfaktor.

Bei der Frage, warum der sonst so kühl kalkuliere­nde Dodik auf wahltaktis­che Bauernopfe­r verzichtet, zuckt Analyst Puhalo mit den Schultern: „Eine Hypothese ist, dass er nicht die Macht hat, den Polizeiche­f abzulösen; dass es eine Art paralleles Machtsyste­m gibt, das er nicht kontrollie­ren und beherrsche­n kann.“

Die Proteste erzwangen eine neue Obduktion: Diese kam zum Schluss, dass die Leiche keineswegs wie behauptet sechs Tage, sondern nur zwei bis vier Tage im Wasser gelegen habe. Eigene Recherchen und die widersprüc­hlichen Justizbefu­nde erhärteten die Überzeugun­g der Angehörige­n, David sei von mehreren Personen verschlepp­t, misshandel­t und vergewalti­gt worden – aber sein Mord werde von der Polizei vertuscht.

Ein Untersuchu­ngsausschu­ss des Parlaments der Republika Srpska kam zu dem Schluss, dass es begründete Hinweise für einen Mord gebe. Der Abschlussb­ericht wurde von der Regierungs­mehrheit abgelehnt. Begründung: Die Opposition habe den Fall „politisier­t“. Die Staatsanwa­ltschaft kündigte die Aufnahme von Ermittlung­en wegen Mordverdac­hts an.

Im September kam es zu ersten Verhaftung­en. Zwei Polizeibea­mten wird die Vernichtun­g von Beweismitt­eln vorgeworfe­n. Ein Elektroing­enieur soll die Aufnahmen einer Überwachun­gskamera manipulier­t haben.

Die Narben sind verheilt, die Schläge unvergesse­n. Am Abend des 26. August hat der Journalist Vladimir Kovaceviˇc´ für den TVSender BN über den Protest berichtet. Bei seiner Rückkehr lauerten ihm vor seinem Haus zwei maskierte Männer auf. „Sie schlugen mich mit Metallstan­gen gezielt auf den Kopf“, berichtet der 36-jährige Familienva­ter. Das Motiv könne er nur vermuten: „Seit Jahren verfasse ich Beiträge über Kriminalit­ät und Korruption.“

Ob er noch lang in seinem Beruf und Land arbeiten werde, wisse er nicht – er habe auch Verantwort­ung gegenüber seinen Kindern: „Doch wenn ich emigriere, dann kann ich den Journalism­us vergessen.“

Je trister auf dem Balkan der Alltag, desto größer die Wahlplakat­e. Wie sich die Proteste auf die Wahlen auswirken werden, sei „schwer abzusehen“, sagt Analyst Puhalo. Bosniens Eliten bedienten sich stets derselben Rezepte. Mit dem Schüren ethnischer Ängste würden Themen wie Armut, Kriminalit­ät und Korruption verdrängt. Die Abkehr von der Politik und die Emigration der Unzufriede­nen kämen ihnen gelegen: „Bei einer niedrigen Wahlbeteil­igung geben die Parteikade­r den Ausschlag: Als Dank für den erhaltenen Job müssen sie wählen.“

Die Republika Srpska sei der „Privatstaa­t von Dodik“, sagt düster Vater Davor beim Abschied: „Wenn sie das Verbrechen nicht zugeben, werde ich das Recht eben in die eigene Hand nehmen.“Noch einmal erheben die Demonstran­ten die geballte Faust. „Gerechtigk­eit für unsere Kinder“, ruft eine Frau: „Wir machen weiter bis zum Ende.“

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[ Reuters ]

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