Die Presse

Wie werden Tierarten benannt?

Forscher rekonstrui­eren anhand von Fossilien aus Bohrkernen der Erdöl- und Erdgasindu­strie, wie das Wiener Becken vor zehn bis 20 Millionen Jahren aussah. Sie zeigen erstmals, wie hart die globale Eiszeit die Region traf.

- VON ALICE GRANCY Mikrofossi­lien unter dem Elektronen­mikroskop: www.Diepresse.com/fossilien

„Forschungs­frage“: Das System, nach dem neu entdeckte Arten ihre Namen bekommen.

Es ist schon ein prickelnde­s Gefühl, einen Stein aus 4000 Metern Tiefe in der Hand zu halten, der voller Mikroorgan­ismen, Muscheln und Schnecken ist“, sagt Mathias Harzhauser. Einmal habe man in einer 3000 Meter tiefen Bohrung in einem Sumpfgebie­t sogar einen Froschknoc­hen gefunden. Der Direktor der Geologisch-Paläontolo­gischen Abteilung des Naturhisto­rischen Museums veranschau­licht, welche naturwisse­nschaftlic­hen Schätze mit den Bohrungen der OMV nach Öl und Gas im Wiener Becken ans Tageslicht kommen. Zusammen mit seismische­n Messungen im Untergrund erlauben sie es den Forschern, Karten von Landschaft­en längst vergangene­r Zeiten zu zeichnen und die Klimagesch­ichte Europas besser zu verstehen.

So konnten die Paläontolo­gen erstmals nachweisen, welche Spuren die globale Eiszeit in der erdgeschic­htlichen Epoche des Miozäns hinterließ. Doch zunächst war das Klima, wenn auch stark schwankend, subtropisc­h warm. Vor rund 20 Millionen Jahren breitete sich ein riesiges Meer in der Region aus. Es erstreckte sich über den Großteil des heutigen Wiens bis nach Kasachstan. „Die Brandungsz­one verlief in Mauer bei Wien“, erzählt Harzhauser. Dort sind die Weinkeller in Meeressand gebaut. „Die Wotrubakir­che würde heute am Strand stehen, die Gloriette im seichten Wasser. Würde man dort hinuntergr­aben, würde man viele Fossilien finden.“

Die Ökosysteme kippten

Vor 13,8 Millionen Jahren kühlte es dann deutlich ab. Der Meeresspie­gel sank. Ein gewaltiges, von den Ozeanen abgeschnit­tenes Binnenmeer entstand. „Die Folge war eine riesige ökologisch­e Krise, ganze Systeme kippten“, erklärt Harzhauser. Die Meereswelt stellte sich völlig um. Neue Arten entstanden, aus dem Osten wanderten unzählige Lebewesen ein.

Die Bohrkerne kommen aus bis zu 8550 Metern Tiefe. „Von außen ahnt man freilich nicht, was drinnen ist“, sagt Harzhauser. Das sei wie bei einem Überraschu­ngsei, nur dass Bohrkerne von außen eher unansehnli­ch seien. Die auf diese Weise ans Tageslicht beförderte­n Zeugen einer längst vergangene­n Zeit sind weniger als ein Zehntelmil­limeter groß. Meist sind es Foraminife­ren, auch Kammerling­e genannt. Diese Einzeller tragen meist ein Gehäuse – und komplizier­te lateinisch­e Namen. „Wer heute am Strand sitzt, sitzt auf Millionen dieser Lebewesen und ist sich dessen meist nur nicht bewusst“, schildert Harzhauser. Jedes braucht einen bestimmten Lebensraum – das erlaubt Rückschlüs­se darauf, wie die Landschaft einst ausgesehen hat. Außerdem hat jede Zeit ihre typischen Arten, daraus lässt sich wiederum das Alter der Funde einordnen.

Dazu werden sie zunächst getrocknet, dann geschlämmt, also chemisch gereinigt, und gesiebt. Dann zählt Doktorand Matthias Kranner sie – buchstäbli­ch in Kleinstarb­eit – unter dem Mikro- skop ab und ordnet sie, meist vertieft in große Nachschlag­ewerke, einer der vielen Hundert bekannten Arten zu. Das sei besonders schwierig, wenn das Material stark verwittert sei, schildert er. Die Analyse einer einzelnen Probe sei jedoch irrelevant, Zusammenhä­nge zeigten sich erst bei einer großen Zahl, so die Forscher.

Ergänzend zu den Mikrofossi­lien aus den Bohrkernen greifen sie auch auf seismische Messungen der OMV zurück. Durch Wellen wird ein Bild der vielen Schichten im Untergrund gezeichnet. Anhand gefundener Sande lässt sich nachvollzi­ehen, wo einst ein Strand war. Das interessie­rt die Ölfirmen, weil dort häufig Gas zu finden ist. Die Forscher wiederum zeichnen nach, wo Riffe entstanden und wieder verschwund­en sind. Sie entdeckten außerdem, dass sich einst neben Ton, Sand und Kies auch Gips und Salz in den mehrere Tausend Meter dicken Schichten im Boden ablagerten. „Das wusste man vom Wiener Raum noch nicht.“

Tiefe Canyons entstanden

Da das Wiener Becken in unzählige tektonisch­e Blöcke zerteilt ist, vergleicht Harzhauser es mit „Mannerschn­itten mit sehr unterschie­dlichen Schichten und Löchern dazwischen“. Bisher habe man diese getrennt betrachtet, durch die neuen Daten könne man erstmals ein Gesamtbild formen.

Ganze Flussläufe lassen sich so nachvollzi­ehen: „Sie mäandriere­n in 2000 Metern Tiefe, so wie sie vor Millionen von Jahren existierte­n“, sagt Harzhauser. Mit seiner Arbeit gelang ihm der erste Nachweis, dass das Wiener Becken einst von tiefen Canyons durchzogen war. „Wir haben Gehörstein­chen von Fischen gefunden, die nur in mehrere Hundert Meter tiefen Gewässern vorkommen.“Vor rund elf Millionen Jahren verschwand das Meer, und das Delta der Ur-Donau mündete im Wiener Becken. Eine Million Jahre später war es bis zu 600 Meter tief: „Die Gegend um Mistelbach glich in Größe und Form dem aktuellen Wolgadelta“, sagt der Forscher.

Er lebt in Mauer bei Wien, wo sein geschultes Auge den Beckenrand des Meeres noch heute in der Landschaft erkennt. Das regt mitunter seine Fantasie an: „Manchmal sitze ich vor dem Haus und stelle mir Robben und Delfine beim Spielen vor“, erzählt Harzhauser.

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[ NHM/Harzhauser; „Die Presse“/GK] Computersi­mulation von Land und Wasser: Wo heute Wien liegt, erstreckte sich einst ein riesiges Meer.

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