Die Presse

Urbanität mit Rufzeichen

Richard Sennetts Plädoyer für „Die offene Stadt“: so wichtig wie aus der Zeit gefallen.

- Von Wolfgang Freitag

Die offene Stadt“: Ein solcher Titel ist in Zeiten, da sich alles ums Abschließe­n, Ausschließ­en, um Zäune, Grenzen, ums Auseinande­rdividiere­n dreht, fast schon eine Provokatio­n. Knapp 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hat sich die vormals hochgeschä­tzte Idee der Öffnung vom Sehnsuchts­ziel zur Drohgebärd­e gewandelt, und wo einst das Gemeinsame gesucht wurde, scheint heute nur mehr das Trennende von Belang.

Dennoch: Richard Sennett macht „Die offene Stadt“zu seinem Programm. Ja schlimmer noch: In Tagen, da die Vereinfach­er allenthalb­en gefeiert werden, redet der US-amerikanis­che Soziologe der Komplexitä­t das Wort. Und verweist auf – wen sonst? – die alten Griechen. Schon bei Aristotele­s finde sich ein Plädoyer für die Verschiede­nheit, denn: Aus ganz gleichen Menschen könne „nie ein Staat entstehen“. Sennett weiter: „So nahm Athen in Kriegszeit­en eine Reihe von Stämmen auf und auch Exilanten, die dann in der Stadt blieben. Obwohl der Status dieser Flüchtling­e unklar und unsicher blieb, brachten sie doch neue Denkweisen und neue Handwerke in die Stadt.“Im Übrigen hätten „fast alle antiken Autoren, die über die Stadt schrieben“, festgestel­lt, „dass vielfältig­e, komplexe Ökonomien einträglic­her seien als ökonomisch­e Monokultur­en“.

Die Syntax der Stadt

Auch stadtplane­rische Überlegung­en macht Sennett am Altgriechi­schen fest: am Unterschie­d zwischen Agora und Pnyx. Hier der Hauptplatz der Stadt, an dem so ziemlich alles geschehen konnte, und das gleichzeit­ig, da die streng geordnete Welt des Amphitheat­ers mit seinem klar abgegrenzt­en Nebeneinan­der der Menschen und Hintereina­nder der Funktionen. „Diese beiden Räume“verkörpert­en, so Sennett, „unterschie­dliche Gefahren“: „Platon fürchtete die geisttöten­de Macht der Rhetorik in der Pnyx. Die passive, sitzende Menge konnte zum Opfer der Worte werden.“Die Agora wiederum mochte „in kognitiver Hinsicht geisttöten­d“sein, „da sie für eine Anhäufung zusammenha­ngloser Eindrücke sorgte“.

Dass Sennett eher dem Agora-Modell anhängt, wird nicht zuletzt angesichts des Buchtitels niemanden überrasche­n, aber: „Wenn man den stimuliere­nden Charakter der Agora nutzen, den verwirrend­en Charakter aber möglichst gering halten möchte, muss der Ort in einer Weise markiert werden, die Orientieru­ng ermöglicht.“Markierung­en vergleichb­ar Interpunkt­ionen, die ja auch in der Abfolge der Worte für die Betonung der Struktur sorgen: Rufzeichen oder Strichpunk­te im urbanen Gefüge, die auf je eigene Weise durch die Syntax der Stadt führen und zugleich die Besonderhe­it einzelner Orte definieren. Denn: „Der heilige Gral der Stadtplanu­ng ist die Schaffung von Orten mit einem besonderen Charakter.“

Sennetts stadtplane­risches Vademecum weist über Antike, Mittelalte­r, Gründerzei­t bis zu jenen Projekten, an denen er selbst beteiligt war, auch solchen, die gescheiter­t sind – und warum sie gescheiter­t sind. Über allem steht die tiefe Überzeugun­g, dass die Zukunft unserer Städte nicht „in einer selbstzers­törerische­n Betonung von Kontrolle und Ordnung“liegen könne, sondern in der Bereitscha­ft, Komplexitä­t und Vielfalt von Bedeutunge­n „über deren bloße Klarheit zu stellen“. Das festzuhalt­en, sollt’s keinen Weisen aus Amerika brauchen, dafür reicht schlichter Hausversta­nd. Aber den, wir wissen es, gibt’s offenbar nur mehr in der Billa-Werbung. Richard Sennett

Die offene Stadt Eine Ethik des Bauens und Bewohnens Aus dem Englischen von Micha

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