Harald Klauhs: Buchmessen-Gastland Georgien
erschienen sind. Die Kaukasusrepublik ist ein altes Literaturland, mit einer eigenen, verspielt wirkenden Schrift und einer Sprache, die im Gegensatz zum Deutschen kaum Lautverschiebungen durchlaufen hat. Deshalb können georgische Literaten Rustawelis Ritterroman heute noch problemlos lesen – und tun das auch. Nicht nur in der Schule, wo das Epos Lehrstoff ist, sondern auch als Anregung für ihr eigenes literarisches Schaffen. In ihren Romanen finden sich immer wieder Bezüge zum Walther von der Vogelweide Georgiens, was vielleicht an den in das Werk eingestreuten Sinnsprüchen liegt. Etwa: „Ein Freund, zum Feind geworden, ist mehr Feind als alle Feinde.“Georgiens Verhältnis zu Russland hatte der Dichter damals nicht vor Augen. Dieses spielt aber nicht nur in der Politik, sondern auch in der Literatur eine entscheidende Rolle.
Die 70-jährige sowjetische Besatzung (1921 bis 1991) hat die Freundschaft zwischen den beiden Völkern nicht eben befördert. Eine Distanzierung fällt Georgien allerdings schwer, war doch der Sieger im Großen Vaterländischen Krieg der 1878 in Gori geborene Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili. Heute tun die Nachbarn so, als sei nie etwas zwischen ihnen gewesen. Aus georgischer Sicht verständlich: Was soll das kleine Land gegen das Riesenreich schon ausrichten? Russland wiederum lebt offenbar ganz gut mit seinen Außenbaustellen: auf der Krim, in der Ostukraine, in Abchasien und Südossetien. Putin und seine Pufferzonen. Aus dieser Sicht wäre es vielleicht klüger, Georgien würde sich um eine Lösung in der Frage seiner abtrünnigen Provinzen kümmern als um einen Beitritt zur Nato.
Dass es zur Abspaltung der beiden georgischen Provinzen kam, lag aber nicht an Putin, sondern am ersten Präsidenten der unabhängigen Republik Georgien, Swiad Gamsachurdia (Mai 1991 bis Jänner 1992): Er schaffte kurzerhand deren Autonomie ab. Die riefen daraufhin Russland zu Hilfe. Man weiß, wie so etwas ausgeht. Die Muster sind überall dieselben: Gibt es in einem Land eine russische Minderheit, kann sich der Kreml als deren Schutzmacht gerieren und gezielt Destabilisierungspolitik betreiben. Das ist weder irrational noch unvorhersehbar. Das ist normale Geheimdienstarbeit. Die hat der russische Präsident von der Pike auf gelernt, unter anderem in der DDR. Zur Zeit der georgischen Sezessionskriege war er bereits wieder in Moskau. Dem Mutterland des Weins blieb nicht viel mehr übrig, als sich dadurch zu „rächen“, dass es deutlich mehr Rebensaft nach Russland lieferte, als Trauben in Georgien gekeltert worden waren. Was – ganz ohne Glykol – zu einem veritablen Weinskandal führte.
Es ist stets angeraten, sich mit der Geschichte und Geografie eines Landes zu beschäftigen, will man sich auf eine Nationalliteratur einlassen. Für die Beschäftigung mit dem diesjährigen Gastland auf der Frankfurter Buchmesse ist das unerlässlich. Denn die georgische Literatur, von der aus Anlass der Leistungsschau in Frankfurt erfreulich viel ins Deutsche übersetzt wurde, ist hinsichtlich des Spannungsverhältnisses zum großen Bruder im Norden der österreichischen nicht unähnlich. Einer, der den langen Arm des NKWD am eigenen Leib zu spüren bekam, ist der 90-jährige deutschgeorgische Schriftsteller Giwi Margwelaschwili. Sein Vater war nach der sowjetischen Besetzung Georgiens nach Deutschland emigriert. Dort wuchs der Knabe vor und während des Dritten Reichs heran. Nach dem Krieg lockte der NKWD Vater und Sohn unter einem Vorwand von der britischen in die sowjetische Zone. Der Vater wurde liquidiert, der Sohn 18 Monate inhaftiert und dann nach Georgien verschleppt. Diese Er- eignisse schildert Giwi Margwelaschwili in seinem autobiografischen Roman „Kapitän Wakusch“, den der Verbrecher Verlag, der das Werk seit 2007 neu auflegt, drei Jahre später edierte.
Bereits Ende der 1970er-Jahre war der nun erstmals auf Deutsch vorliegende Roman „Das erste Gewand“von Guram Dotschanaschwili erschienen und rasch zum Kultbuch der Georgier geworden. Der 1939 in Tbilissi geborene Autor nimmt darin den Aufstand und Untergang der Bewohner der brasilianischen Stadt Canudos gegen eine marodierende Soldateska zum Anlass, um über das menschliche Dasein in Zeiten politischer Tyrannei zu schreiben. Das Buch ist eine groß angelegte Parabel über autoritäre Systeme. Dotschanaschwili war bereits als Gymnasiast verhaftet worden, weil er Flugblätter gegen das Regime verteilt hatte. In seinem Roman, an dem er 13 Jahre arbei- tete, parodiert er die Sprache der Mächtigen und entstellt sie so zur Kenntlichkeit.
Ebenso gegen die Okkupation kämpfte der vielleicht berühmteste Autor Georgiens im 20. Jahrhundert: Otar Tschiladse (1933 bis 2009). Zeitlebens engagierte sich der Lyriker, Dramatiker und Romancier gegen die Übermacht des russischen respektive sowjetischen Einflusses. Er sah die Funktion Georgiens in der Verbindung der Völker: „Sein Heimatland war unterdessen zu einem belebten Verkehrsweg geworden, der das weite russische Imperium mit den Ländern des Südens und des Ostens verband.“So heißt es in seinem Roman „Der Korb“, den er 2002 fertigstellte und der nun, gemeinsam mit zwei älteren Werken („Der Garten der Dariatschangi“und „Awelum“), auf Deutsch vorliegt. Im „Korb“, seinem gewaltigen Altersepos, malt er in düstersten Farben den Niedergang und den von Russland angetriebenen Auseinanderfall seiner Heimat nach der Unabhängigkeitserklärung. Für Tschiladse versank das Land in den 1990ern in einem Chaos apokalyptischen Ausmaßes.
Neben den großen alten Männern der georgischen Literatur setzen sich aber auch Vertreter der jüngeren Generation literarisch mit den sowjetischen Zeiten auseinander. „Der erste Russe“heißt der Roman des 1977 geborenen Lasha Bugadze. Der mit satirischen Beiträgen bekannt gewordene Autor nimmt persönliche Erlebnisse zum Ausgangspunkt, um den moralischen und wirtschaftlichen Verfall seines Landes nach der Auflösung der Sowjetunion aufzuzeigen. Im Unterschied zu den entsetzten älteren Autoren macht er das nicht auf drastische, sondern auf humorvolle Art. Bugdaze verheiratet in seinem Roman die legendäre Königin Tamar mit einem zeugungsunwilligen Russen. Daraufhin lässt sie den Angetrauten mit dem Segen der Kirche des Landes verweisen.
Dieses Setting gibt dem Autor Gelegenheit, auf die unglückselige Politik der orthodoxen Kirche im nachsowjetischen Geor- gien hinzuweisen. Vom schwierigen Übergang von der Sowjetrepublik zum eigenständigen Staat erzählt auch der Schauspieler, Fotograf und Autor Archil Kikodze im Roman „Der Südelefant“. In einem inneren Monolog reflektiert darin ein Mann seine Vergangenheit. Er streift durch Tbilissi und versucht seinem Sohn zu erklären, warum sich die Großvätergeneration so schwer mit den anarchistischen Zuständen im unabhängigen Georgien tut.
Einen anderen Akzent setzt der in Georgien vielfach ausgezeichnete und bekannte Autor und Journalist Aka Morchiladze in seinem jüngsten Roman. „Der Filmvorführer“ist ein verbannter Fürstensohn eines mittelasiatischen Landes, der sich in einer georgischen Kleinstadt mit dem Knaben Beso anfreundet. Als der Bursche nach Afghanistan eingezogen wird, rettet ihn der viel Ältere auf rätselhafte Weise. Eines Tages ist der Film- vorführer aber verschwunden – bald danach auch Beso. Zurück bleiben seine Aufzeichnungen. Darin finden sich dann Zeugnisse einer ungewöhnlichen Freundschaft in Zeiten des Umbruchs im Zuge der Perestroika. Morchiladze packt in diesen Roman eine Menge Themen hinein: Vertreibung, inneres Exil und interkulturelle Freundschaft ebenso wie Krieg, Fremdherrschaft und nationale Souveränität. Er wird gemeinsam mit Nino Haratischwili die Eröffnungsrede zum Gastlandauftritt in Frankfurt halten.
Die georgische Literatur ist noch männlich dominiert, ungeachtet vieler Bücher von georgischen Autorinnen, die jetzt übersetzt wurden. Erstaunlich deshalb, dass mit Nino Haratischwili ihr bekanntestes Gesicht im deutschsprachigen Raum weiblich ist; was damit zu tun hat, dass die 1983 in Tbilissi geborene Autorin schon lange auf Deutsch schreibt. Nach ihren viel beachteten Romanen „Mein sanfter Zwilling“und „Das achte Leben (Für Brilka)“legt sie nun den opulenten Roman „Die Katze und der General“vor, der es prompt auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis brachte. Auch Haratischwili nimmt sich der Auflösungserscheinungen des Sowjetreichs an, allerdings aus der Perspektive eines russischen Obersts im Tschetschenienkrieg, der ein Dorf stürmen und ein Mädchen verschleppen lässt und die Bilder von Folter, Vergewaltigung und Mord nicht mehr aus dem Kopf bekommt.
Wer nicht in die Tiefen der georgischen Literatur eindringen, sondern einen kompakten Einblick in die gegenwärtige Literaturszene Georgiens nehmen möchte, kann aus mehreren Anthologien wählen: „Bittere Bonbons“heißt eine Sammlung georgischer Erzählungen von 13 Autorinnen unter 50; „Zug nach Tbilissi“ein Lesebuch mit Geschichten über Tbilissi; „Georgien. Eine literarische Reise“enthält Berichte von sechs deutschen und sechs georgischen Autorinnen und Autoren durch etliche Regionen des Landes. Eine Anthologie von Geschichten aus und über Georgien haben Manfred Heinfeldner und Lena Luczak unter dem Titel „Eine literarische Einladung“bei Wagenbach herausgegeben.
„Kleiner kaukasischer Divan“heißen die kenntnisreichen Reiseberichte Adolf Endlers durch Georgien aus den 1970er-Jahren, die Wallstein wieder aufgelegt hat; in einer bibliophilen Ausgabe hat der Wieser Verlag die erstmals 2000 erschienenen Entdeckungsreisen des deutschen Diplomaten Fried Nielsen durch „Georgien im Wandel“neu herausgegeben. Für Menschen, die sich auf eine Reise dorthin vorbereiten wollen, ist Constanze Johns atmosphärischer Reise-Essay „40 Tage Georgien“besonders empfehlenswert In warmherzigem Ton gibt er Ein