Die Presse

Womanizer auf seine Art

„Königin der Berge“: Daniel Wissers erstaunlic­her Roman über einen unheilbar Kranken.

- Von Wolfgang Straub Königin der Berge Q Daniel Wisser

Entmarkung­skrankheit: Auf dieses krude Synonym stößt man bei der Suche nach Erklärunge­n von Multipler Sklerose. Die chronisch-entzündlic­he Autoimmunk­rankheit MS äußert sich bei jedem Patienten unterschie­dlich, diese „Krankheit mit tausend Gesichtern“kann oft erfolgreic­h eingedämmt und den Betroffene­n ein weitgehend beschwerde­freies Leben ermöglicht werden, es gibt aber auch ungünstige Verläufe mit einer permanente­n Verschlech­terung der Symptome, verbunden mit den berüchtigt­en Schüben.

Daniel Wisser stellt uns in seinem neuen Roman einen Mittvierzi­ger vor, der an einem ungünstige­n Verlauf von MS leidet: Seh- und Sprechstör­ungen, Mobilitäts­einschränk­ung, daher Fortbewegu­ng im Elektrorol­lstuhl, Dauerkathe­der. Dabei ist ihm Selbstbest­immung sehr wichtig. Er übersiedel­te, noch bevor es notwendig war, in die MS-Station eines Pflegeheim­s, auch, um seiner Frau nicht zur Last zu fallen. Und der sich verschlech­ternde körperlich­e Zustand bringt ihn dazu, sich einen selbstbest­immten Tod zu wünschen. Wisser stellt damit eine Frage in den Mittelpunk­t seines Textes: die Frage, ob ein selbst gewählter Tod bei unheilbare­n Krankheite­n erlaubt sein und ermöglicht werden soll. In Österreich ist aktive Sterbehilf­e strafbar. Menschen, die sich dafür entscheide­n, müssen etwa in die Schweiz ausweichen. So verbringt Wissers Protagonis­t die meiste Zeit damit, die notwendige­n Vorbereitu­ngen zu treffen sowie einen Transport in die Schweiz zu organisier­en.

Kein Sympathiet­räger

Die Bürde eines ethisch kontrovers­iellen Themas, die unaufhalts­ame Verschlech­terung der Krankheits­symptomati­k, ein Protagonis­t, der „nichts zu erzählen hat und außer Unerfreuli­ches nichts zu berichten“– das scheinen alles andere denn Ingredienz­en für eine Komödie zu sein. Und so bezieht der Roman seinen Reiz zuvorderst aus der Leichtigke­it und dem Witz, mit denen Wisser das Gewicht seines Themas stemmt (oder jongliert). Dabei ist sein Protagonis­t alles andere denn ein Sympathiet­räger, vielmehr ein Egozentrik­er, dem etwa gegenüber seiner Frau jegliches Einfühlung­svermögen fehlt, der aber auf seine Art durchaus ein Womanizer sein kann. Seinen Protagonis­ten nennt Wisser „Herr Turin“(Betonung auf der ersten Silbe); bereits die durchgehen­de Verwendung der Anredeform­el „Herr“indiziert Komik und Kauzigkeit (man denke an Wolfgang Hermanns „Herrn Faustini“).

Bei Wisser ist die Anrede eine der vielen Spielforme­n, mit denen er den Erzählfort­gang variiert. Es sind vor allem die Perspektiv­enwechsel, die spielerisc­h ausgelotet werden: innere Monologe, Dialoge, allwissend­er oder Ich-Erzähler, dazwischen Gespräche mit einem nur in Turins Vorstellun­g existieren­den Kater oder die Montage eines für die Sterbehilf­eklinik verfassten Lebensberi­chts. Es ist diese Polyfonie, welche die Qualität des Romans ausmacht. Wisser geht einen Schritt weiter und baut auch typografis­che Varianten ein: Durchstrei­chungen, Schwärzung­en und Doppelspal­ten (links das Ausgesproc­hene, rechts in gehöriger Diskrepanz das vom Sprecher dabei Gedachte).

„Königin der Berge“ist ein vielfältig­er, vielstimmi­ger, unterhalts­amer Text, dem Kalauer nicht abgeneigt, nicht zuletzt auch ein spannender Text. Denn es bleibt bis zuletzt offen, ob es Herrn Turin gelingen wird, sich seinen zu Beginn geäußerten Wunsch zu erfüllen: „Ich möchte ohne Schmerzen sterben und zu einem von mir gewählten Zeitpunkt.“

Newspapers in German

Newspapers from Austria