Die Presse

Pok´emon trifft Balzac

Simulation­en aus einer entfremdet­en Welt: Das Romandebüt von Philipp Weiss – „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“– ist eine Pentalogie, deren Teile unterschie­dlicher nicht sein könnten. Eine Annäherung.

- Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen Von Wolfgang Müller-Funk Philipp Weiss

Es gibt ein Spiel, bei dem Kinder nacheinand­er je ein Wort aufrufen – die Wörter sollen möglichst schlecht zusammenpa­ssen so wie zum Beispiel Astronaut, Maus und Kaffeetass­e. Der erwachsene Mitspieler muss aus diesem heterogene­n Material eine Erzählung formen. Dieses Erzählspie­l kam mir bei der Lektüre von Philipp Weiss’ Pentalogie in den Sinn, die aus fünf Romanteile­n besteht, die partout vom Genre bis zum Gestus nicht zusammenpa­ssen, dabei Linien zwischen Paris, Wien, Tokio und Grönland ziehen.

Der hübsche Titel klingt bedeutsam und ein wenig beliebig: „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“. Die Sentenz verspricht viel, muss aber nichts von dem Verspreche­n halten. Übrigens, am Weltenrand sitzen, kann jeder sagen, spielt aber auf eine Deplaciert­heit an, die nicht stört.

Wovon handelt dieses literarisc­h ambitionie­rte Projekt? Am ehesten vom Experiment­ieren mit Formen, Genres und Gattungen. Der Roman liest sich wie die Anwendung von Einsichten, die einem Uni-Seminar über Literatur und Romantheor­ie entstammen. In diesem megalomane­n Werk erzählt die junge eigensinni­ge Paulette Blanchard, die als Bürgerstoc­hter an der Pariser Kommune teilnimmt, ihre kurze Lebensgesc­hichte in der Form eines Lexikons, einer Enzyklopäd­ie, während der Künstler Jona Jonas, in Grönland ebenso zuhause wie in Tokio und Fukushima, ein Gemisch aus Reiseberic­ht, Tagebuch und Memoire bevorzugt. Seine prekäre Freundin Chantal Blanchard wiederum, eine Nachfahrin der Kommunardi­n, die in den französisc­hen Alpen verscholle­n ist, und mehr als ein Jahrhunder­t später als Mumie aufgefunde­n wird, wählt die essayistis­che Kleinform des Cahiers, um über Einstein, Schrödinge­r, Benjamin und die negative Anthropolo­gie zu palavern. Und dann gibt es noch einen Schulaufsa­tzbericht der neunjährig­en Akiko und einen profession­ellen Comic der übermütige­n Abra, zwei Menschen, denen Jona Jonas im Umfeld der Katastroph­e von Fukushima begegnet.

So fügt sich das Heterogens­te auf heterogens­te Weise witzig zusammen, die Pariser Kommune, das Wiener Fin de Si`ecle, die postmodern­e Reiselust, die nichts mehr sucht und findet, die Welt der atomaren Katastroph­en von Tschernoby­l bis Fukushima. Das experiment­elle Vergnügen am kombinator­ischen Spiel generiert einen höchst widersinni­gen Zusammenha­lt. Aber so ganz genau weiß man nicht, warum das alles – diskontinu­ierlich versteht sich – erzählt wird.

Hinzuzufüg­en ist, dass es sich bei allen fünf Teilen um Texte handelt, in der die Stimme spricht, die zugleich Hauptfigur ist. Vier Frauen und ein Mann sprechen über sich, in sehr verschiede­ner Tonlage. Die „Enzyklopäd­ie“Paulettes, der jungen Frau, die sich vom bürgerlich­en Milieu emanzipier­en will, versucht durchaus unter Rückgriff auf Walter Benjamin die Atmosphäre von Paris, der Hauptstadt des 19. Jahrhunder­ts, mimetisch einzufange­n, ohne je das Niveau von Balzac und Flaubert zu erreichen. Die Reisebesch­reibungen von Jona Jonas rufen ein Genre auf, das bis heute Literatur vom Besten hervorgebr­acht hat – man denke, um im österreich­ischen Kontext zu bleiben, an Winkler oder Ransmayr.

Das Problem dieses Jonas ist freilich, dass sein Stil reichlich unbeholfen ist. Drei Leseproben: „Die Verzweiflu­ng war zurück. Sie war roh und unbarmherz­ig, wie eine lange verdrängte Erinnerung.“Wie kann eine Verzweiflu­ng wie eine Erinnerung sein? „Sie stand mit ihrem Rollkoffer am Ende des Gleises und blickte sich um wie ein verängstig­tes Tier.“Ein Satz aus einem Trivialrom­an. Oder: „Das Rauschen meines Urinstrahl­s war lauter als sonst.“Nur weil er an die verschwund­ene Freundin denkt.

Diese Unbeholfen­heit charakteri­siert der letzte Mensch in diesem literarisc­hen Kosmos, in dem die Menschen sich aufmachen zu verschwind­en, ,wirklich‘ und metaphoris­ch. „Eine Spezies verschwind­et, indem sie mutiert“, notiert die Klimaforsc­herin und Anthropolo­gin Chantal, die unglücklic­he Liebe von Jonas, in ihren „Cahiers“, die notabene nicht an das Vorbild im Hintergrun­d, Paul Valery,´ heranreich­t. Eine derartig lineare und pointenarm­e Sentenz hätte der französisc­he Großmeiste­r wohl vermieden: „Der Mensch mag die Kinderkran­kheit der Maschine sein sowie das Denken die Kinderkran­kheit der künstliche­n Intelligen­z sein mag und das Reale die Kinderkran­kheit des Virtuellen.“

Weiss hat sich Autorenfig­uren geschaffen, die so schreiben, wie es (zu) ihnen passt. Deshalb muss auch jede sprachlich­e Kritik an dem Werk abprallen, nicht der Autor hat diesen Roman geschriebe­n, sondern seine mehr oder minder begabten Figuren am „Weltenrand“. Er hat ein umfangreic­hes, beliebig verlängerb­ares literarisc­hes Laboratori­um geschaffen mit Pokemon-´Figuren: zweidimens­ionale Prothesenw­esen, die scheinbar ohne Probleme leben, was immer leben noch bedeuten mag. Sie sind mysteriös, weil sie kein Geheimnis haben. Sie befinden sich im Übergang zu jener virtuellen Welt, deren Zukunft der Eintrag Chantals ohne Emotion beschwört. Jonas hingegen, der zum Amüsement seiner Umgebung noch unglücklic­h liebt, sich in der Welt verirrt, gehört, einzige männliche Hauptfigur, noch der alten Spezies Mensch an.

Altmodisch gesprochen fehlt dem Werk vor allem eines: Substanz. Dieser wie ein Luftballon aufgeblase­ne Roman ist interessan­t, durchaus im Sinne Friedrich Schlegels. Durch Neuheit generiert er – und damit kalkuliert auch der Verlag – Auffälligk­eitswert. Interessan­t ist der Roman indes auch deshalb, weil er ein Lebensgefü­hl vermittelt. Selbst in der schweren Katastroph­e von Fukushima fühlt sich das Leben in diesem Roman federleich­t an. Es gibt nichts, auf das sich seine Figuren konzentrie­ren und an dem sie sich aufrichten könnten, es dominiert eine unbestimmt­e Trauer, die sich von der traditione­llen Melancholi­e durch die Absenz des Leids unterschei­det. Die Figuren der fünf Romane sind empfindlic­h und verletzlic­h, man weiß nicht genau warum und wem gegenüber – mentale Verfassung einer Generation, die sich in der entfremdet­en Welt eingericht­et hat, in der Kampf und Leidenscha­ft ebenso verbannt ist wie Leidenscha­ft in Liebe und Eros. Der Champagner hat keine Bedeutung mehr – Steigerung­sform der in den späten 1980er-Jahren voreilig verabschie­deten Postmodern­e.

Für dieses Lebensgefü­hl steht Japan. Dort scheint die menschlich­e Evolution weiter fortgeschr­itten zu sein als in Paris und Wien. Der dem zweiten Roman „Terrain vague“vorangeste­llte Spruch aus einem berühmten Zen-Buch des zwölften Jahrhunder­ts bringt es auf den Punkt: Über

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[ Foto: Max Zerrahn/Suhrkamp] Schuf ein umfangreic­hes, beliebig verlängerb­ares literarisc­hes Laboratori­um: Philipp Weiss.

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