So viel Meer muss sein
Was verbindet unser Sozialversicherungswesen mit der frühen Textilindustrie Indiens? Was Südamerikas Silber mit chinesischem Tee? Jürgen Elverts „Maritime Geschichte der Neuzeit“: immer wieder überraschend, eingängig, und doch nicht ohne Makel.
Die Faustregel ist simpel und gut zu merken: 70–80–90. 70 Prozent der Erde sind von Wasser bedeckt; 80 Prozent der Weltbevölkerung lebt an oder in der Nähe von Meeresküsten; 90 Prozent des Welthandels erfolgt über die Ozeane. Mehr braucht man gar nicht zu sagen, um klarzustellen, welch überragende Bedeutung die Weltmeere für die Menschheit haben. Allein, so beklagt der Kölner Neuzeithistoriker Jürgen Elvert, herrscht gerade bei den heutigen Europäern eine „ausgeprägte Blindheit dafür, welche Bedeutung das Meer für Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Kontinents hat“. Gerade in einem Binnenland wie Österreich sollte man die Frage nach der Bedeutung des Meeres wohl gar nicht stellen, man würde überwiegend nur auf Achselzucken stoßen. Dabei ist Europa der maritime Kontinent schlechthin: 10,5 Millionen Quadratkilometer Grundfläche mit 110.000 Kilometern Küste.
Elvert hat es sich zur Aufgabe gesetzt, Lesern Nachhilfeunterricht zu erteilen: „Europa, das Meer und die Welt“ist der Titel seiner fast 600-seitigen maritimen Geschichte der Neuzeit. Gut, Portugiesen, Spanier, Briten und Niederländer haben einen solchen Nachhilfeunterricht vermutlich weniger nötig, bei ihnen wie bei anderen europäischen Seefahrernationen ist das Wissen über das Meer gewiss einigermaßen ausgeprägt. Aber es ist wichtig, dass der Kölner Historiker diesen maritimen Ansatz zur Erklärung und Deutung der neueren Geschichte gewählt hat, um die Perspektive einer interessierten Leserschaft zu erweitern. Abgesehen davon ist dieses Werk mit seinen vielen sorgfältig ausgewählten Illustrationen ein ausgesprochen schönes Buch geworden.
Elvert ist kein schlichter Geschichtenacherzähler. Er verflicht Wirtschafts-, Sozial-, Kriegs-, Kolonial- und Religionsgeschichte, geht auch immer wieder auf die aktuellen Diskurse unter den Historikern über diese oder jene Theorie ein – das alles in verständlichem Stil geschrieben. Einer der Gedanken, die einem bei der Lektüre immer wieder in den Kopf schießen: Globalisierung gibt es, seit die Europäer aufbrachen, um andere Weltgegenden zu erkunden und für die eigenen (Geschäfts-)Interessen in Beschlag zu nehmen.
Dass die Portugiesen ab dem 15. Jahrhundert eine Vorreiterrolle spielten, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sie kompetente Schiffbauer hatten, die mit der Karavelle ein hochseetaugliches Schiff entwickelten. So konnten sie ein europäisches Handelsimperium in Übersee errichten und eine Hauptrolle als Entdecker, Kundschafter und Zwischenhändler spielen. Die besten Geschäfte machten sie mit Gewürzen.
Die Spanier machten es ihnen nach. Ihnen ging es bei der Errichtung ihres Überseeimperiums um drei Dinge: christliche Mission, Aufbau möglichst profitabler Han- delsbeziehungen und Annexion möglichst großer, fruchtbarer und reicher Landstriche. Im 16. Jahrhundert wurde in Sevilla das Wissen über die Welt gesammelt, das spanische Seefahrer in Lateinamerika und im pazifischen Raum zusammenklaubten.
Aber die strikte staatliche Kontrolle des Überseehandels, politische Fehlentscheidungen und finanzielle Probleme, blockierte Reform- und Modernisierungsmaßnahmen führten zum allmählichen Abstieg der Seeund Handelsmächte Portugal und Spanien. Nun schlug die Stunde der Niederländer und Engländer, dann auch der Franzosen. In den Niederlanden wie in England gingen kapitalkräftige Kaufleute und Glücksritter mit der jeweiligen Staatsführung Allianzen ein; der Staat gab den Kaufleuten Lizenzen, um gegen die Konkurrenz vorgehen zu können.
In England formulierte Walter Raleigh 1615: „Wer immer das Meer beherrscht, beherrscht den Handel; und wer immer den Handel beherrscht, herrscht über die Reichtümer dieser Welt, also über die Welt selbst.“Ein Diktum, dem seine Landsleute folgten, das dann die Amerikaner fliegend übernahmen und dem jetzt auch die Volksrepublik China folgen will.
Zwei Beispiele, wie Elvert die globalen Verflechtungen und ihre Folgen darstellt: Die Europäer übernahmen beziehungsweise stahlen im 19. Jahrhundert von den Indern ihre damals hoch entwickelte Textilfertigung, um selbst Stoffe zu produzieren. In europäischen Städten entstanden große Spinnereien und Webereien, es wurden massenhaft Arbeitskräfte gebraucht, die in Scharen vom Land in die Städte strömten. Dort aber gab es Hungerlöhne für harte Arbeit und kaum Wohnraum. „So gesehen sind die Wurzeln des europäischen Pauperismus, der die Entwicklung sozialistischer Theorien ebenso beförderte wie das europäische Sozialversicherungswesen, eng mit dem Wissenstransfer von textilen Fertigungstechniken und Textildesigns von Indien nach Europa verflochten“, schreibt Elvert.
Oder: China kaufte von den Europäern ab dem 15./16. Jahrhundert vor allem Silber, das in Südamerika abgebaut wurde. Für das Silber wurde den Europäern vor allem Tee geliefert. Um der wachsenden Nachfrage der Europäer nach Tee nachzukommen, wurden im Süden Chinas immer mehr Teeplantagen angelegt, während man den Anbau von Nahrungsmitteln und Baumwolle vernachlässigte. Die so veränderte Agrarstruktur aber führte vermehrt zu Hungersnöten. Zugleich verschlechterte die steigende Teenachfrage die britische Handelsbilanz mit China, was die Briten dazu brachte, China mit Opium aus Bengalen zu überschwemmen, was zu den Opiumkriegen im 19. Jahrhundert führte.
Immer wieder stößt man in Elverts Buch auf so interessante Zusammenhänge. Aber das Buch hat auch Mankos. Viel erfährt man von den Seemächten Portugal, Spanien, Niederlande, Großbritannien, schon weniger von Frankreich und Deutschland und praktisch gar nichts von den Seefahrernationen Dänemark, Schweden, Italien, Griechenland oder auch Russland. Man hätte doch gerne erklärt bekommen, wieso diese Länder nicht auch ihr Glück in Expeditionen nach Übersee versuchten. Die Donaumonarchie kommt lediglich in einer Fußnote vor. Die Kapitel über den Sklavenhandel, über Missionare und Forscher oder die europäische Migration nach Übersee und über das Meer als Tourismusdestination sind gut gelungen, nicht aber jenes über Seemacht, wo Elvert eigentlich nur über die Anstrengungen der Deutschen schreibt, im Großmächtekonzert auf den Meeren mitzuspielen. Das ist zu dürftig. Doch vielleicht hat Elvert ja vor, solche Versäumnissen in einem weiteren Buch wettzumachen.
Jürgen Elvert
Europa, das Meer und die Welt Eine maritime Geschichte der Neuzeit. 592 S., zahlreiche Abb., geb., € 55,60 (Deutsche Verlags-Anstalt, München)