Kopf im Westen, Herz im Osten
Der türkische Schriftsteller Zülfü Livaneli weiß die wunden Stellen der Vergangenheit und Gegenwart seines Landes zu benennen. In seinem Roman „Unruhe“setzt er sich mit dem brisanten Thema Südost-Anatolien auseinander.
Zülfü Livaneli ist einer der vielseitigsten Künstler der Türkei: Filmregisseur, Drehbuchschreiber, Komponist, Liedermacher und Autor von mittlerweile vier Romanen, die auch ins Deutsche übersetzt wurden. Und er ist derjenige, der die wunden Stellen der türkischen Vergangenheit sowie die Schwachstellen der türkischen Gegenwart zu benennen weiß. In den ersten beiden Romanen ging es um die Themen Ehrenmord, aber auch um die Verweigerung von Hilfe, als der marode Frachter namens Struma 1941 mit 768 jüdischen Flüchtlingen auf dem Weg nach Palästina in Istanbul nicht anlegen durfte. Er wurde ins Schwarze Meer abgeschleppt, wo dann ein russisches Kanonenboot ihn versenkte. Im selben Buch wurde in einem weiteren Erzählstrang auch des Schicksals überlebender Armenier sowie der Krimtataren in der Türkei, deren Identität sich hinter dem allgegenwärtigen türkischen Nationalismus verbergen musste, gedacht. Im dritten Roman stand das Thema türkische Ingenieure und Gastarbeiter in der ehemaligen SU, abgehandelt am Fall einer tragischen Verwechslung, zur Debatte. Ein türkischer Ingenieur, der zufällig denselben Namen trug wie ein tschetschenischer Aufständischer, wurde verhaftet und ein Jahr lang unter furchtbarsten Bedingungen festgehalten, weil man einfach auf ihn vergessen hatte.
Mit einem Wort, Livaneli greift mit bloßer Hand nach den heißen Eisen seines Landes, um mit ihnen die faulenden Stellen auszubrennen. Er weiß, was er tut, war er doch nach dem Militärputsch 1971 nach Schweden geflüchtet und verbrachte fünf Jahre als Asylant in Stockholm, Paris und Athen, bevor er zurückkehrte und 1996 zum Unesco-Botschafter ernannt wurde. Von 2002 bis 2007 saß er als Abgeordneter der Republikanischen Volkspartei CHP im türkischen Parlament.
In seinem neuesten Roman, 2017 auf Türkisch erschienen, mit dem deutschen Titel „Unruhe“, setzt er sich mit dem Thema Südost-Anatolien auseinander. Bald zeigt sich, dass Ibrahim, der Protagonist, seine eigene Gespaltenheit im Sinn von: Verstand im Westen – Herz im Osten, immer deutlicher zu spüren bekommt, je mehr an Grausamkeit ihm begegnet.
Der zweiunddreißigjährige Journalist, der in Istanbul studiert und dort auch Arbeit gefunden hat, erfährt in seiner Redaktion, dass sein Schulkollege Hüseyin in Amerika von weißen Rassisten erschossen wurde. Er nimmt den Auftrag an, eine Story daraus zu machen, und kehrt nach vielen Jahren wie- der nach Mardin, seine Geburtsstadt im Südosten der Türkei, zurück, um an Hüseyins Beerdigung teilzunehmen und herauszufinden, was diesem Mord vorausgegangen ist. Nichts scheint in Mardin mehr so zu sein, wie es in seiner und Hüseyins Kindheit und Jugend war, und doch scheint sich nichts wirklich verändert zu haben, außer dass kaum mehr Alkohol ausgeschenkt wird und eine Reihe von hässlichen Häusern errichtet wurde.
Ein erster Besuch bei Hüseyins Familie klärt nicht allzu viel auf. Hüseyin war in seiner Heimat von IS-Leuten beinah erstochen worden und zu seinen beiden Brüdern nach Jacksonville, USA, geflüchtet, wo diese in keiner guten Gegend (Salim, einer der Brüder, spricht sogar von einer gewissen Kriminalitätsdichte) eine Pizzeria betreiben.
Tragödienhafte Liebe
Es bedarf mehrerer Besuche Ibrahims, bis er herausfindet, dass Hüseyin eine Jesidin mit einem blinden Kind geheiratet hat. Ein absolutes No-Go für einen sunnitischen Türken aus dem Südosten, gelten doch die Jesiden als Teufelsanbeter. Allerdings leben auch die Jesiden strikt endogam und schließen Zuwiderhandelnde aus ihrer Gemeinschaft aus. Hinzu kommt, dass Hüseyin dieser jesidischen Frau wegen seine ihm längst versprochene Verlobte, die aus einer einflussreichen Familie stammt, sitzenließ. Er hat die junge Jesidin in einem der Lager, in denen er freiwillig Betreuungsarbeit leistete, kennengelernt und sich in sie verliebt. Er bringt sie zu seiner Mutter und seiner Schwester, keine gute Idee, wie sich rasch herausstellt.
Um sich das Tragödienhafte dieser Liebe vorstellen zu können, muss man wissen, dass die Jesiden seit Jahrhunderten, wenn nicht länger, die meist verfolgte Minderheit (ethnisch bzw. sprachlich kurdischer oder aber arabischer Zugehörigkeit und trotz aller Verfolgung mit dem Anspruch, in der einzig richtigen Glaubensgemeinschaft zu leben) sowohl im Irak als auch in Syrien und der Türkei sind.
Ein gefundenes Fressen für den IS der töten, extrem islamistischer Anschauung nach, sunnitischen Muslimen erlaubt ist. Nur ein paar Details zum jesidischen Glauben. Es ist eine sehr alte Religion, mit Wurzeln im persischen Mithraskult, aber auch im Zoroastertum, der sich im Lauf der Zeit einiges aus dem aramäischen Christentum sowie aus Gnosis und muslimischem Sufitum zugesellt hat. Dass man die Jesiden Teufelsanbeter nennt, hat damit zu tun, dass der Engel Pfau, Melek Taus, mit Scheytan beziehungsweise Luzifer in Verbindung gebracht wird. Auch er hatte sich wie Scheytan geweigert, den von Gott geforderten Kniefall vor Adam zu machen. Also wurde Melek Taus in die Hölle geschickt, bereute jedoch und wurde zum Stellvertreter Gottes.
Was Ibrahim bei seinen Recherchen, betreffend die schöne junge und inzwischen verschwundene Meleknaz sowie die anderen jungen Frauen, die in den Lagern leben, in die sie sich flüchten konnten, an Grausamkeit erfährt, treibt einem buchstäblich die Gänsehaut auf. Dabei entfernt Ibrahim sich immer mehr von seiner westlichen Identität, die ihm zusehends oberflächlich erscheint, während er den überwältigenden Gefühlen, die ihn, wie er zu erkennen glaubt, erst wieder zu einem echten Menschen machen, anheimfällt. Vor allem die letzten Worte einer achtjährigen Jesidin, die sich nach mehrmaliger Vergewaltigung, auf der Flucht über den heiligen Berg der Jesiden, in eine Schlucht stürzte und dort in den Armen ihrer Schwester starb – „Ich war ein Mensch!“–, lassen ihn nicht mehr los.
Zurück in Istanbul, sucht er über Flüchtlingsorganisationen Meleknaz, die inzwischen Arbeit und Betreuung für ihr Kind gefunden hat. Sie treffen sich ein einziges Mal. Aber Meleknaz lehnt seine Hilfsangebote ab, indem sie nicht mit ihm spricht. Ibrahim gibt nicht auf, dazu ist seine Empathie für diese traumatisierte junge Frau zu groß. Mit der Zeit gelingt es ihm, Meleknaz in all ihren Leidensgefährtinnen zu sehen und macht sich daran, ihnen eine Stimme zu geben. In einem Flüchtlingslager an der Grenze zu Bulgarien, am Beginn der Balkan-Route, die inzwischen gesperrt ist beginnt er aufs