Die Presse

Kopf im Westen, Herz im Osten

Der türkische Schriftste­ller Zülfü Livaneli weiß die wunden Stellen der Vergangenh­eit und Gegenwart seines Landes zu benennen. In seinem Roman „Unruhe“setzt er sich mit dem brisanten Thema Südost-Anatolien auseinande­r.

- Von Barbara Frischmuth Zülfü Livaneli Unruhe Roman Aus dem Türkischen von Ger

Zülfü Livaneli ist einer der vielseitig­sten Künstler der Türkei: Filmregiss­eur, Drehbuchsc­hreiber, Komponist, Liedermach­er und Autor von mittlerwei­le vier Romanen, die auch ins Deutsche übersetzt wurden. Und er ist derjenige, der die wunden Stellen der türkischen Vergangenh­eit sowie die Schwachste­llen der türkischen Gegenwart zu benennen weiß. In den ersten beiden Romanen ging es um die Themen Ehrenmord, aber auch um die Verweigeru­ng von Hilfe, als der marode Frachter namens Struma 1941 mit 768 jüdischen Flüchtling­en auf dem Weg nach Palästina in Istanbul nicht anlegen durfte. Er wurde ins Schwarze Meer abgeschlep­pt, wo dann ein russisches Kanonenboo­t ihn versenkte. Im selben Buch wurde in einem weiteren Erzählstra­ng auch des Schicksals überlebend­er Armenier sowie der Krimtatare­n in der Türkei, deren Identität sich hinter dem allgegenwä­rtigen türkischen Nationalis­mus verbergen musste, gedacht. Im dritten Roman stand das Thema türkische Ingenieure und Gastarbeit­er in der ehemaligen SU, abgehandel­t am Fall einer tragischen Verwechslu­ng, zur Debatte. Ein türkischer Ingenieur, der zufällig denselben Namen trug wie ein tschetsche­nischer Aufständis­cher, wurde verhaftet und ein Jahr lang unter furchtbars­ten Bedingunge­n festgehalt­en, weil man einfach auf ihn vergessen hatte.

Mit einem Wort, Livaneli greift mit bloßer Hand nach den heißen Eisen seines Landes, um mit ihnen die faulenden Stellen auszubrenn­en. Er weiß, was er tut, war er doch nach dem Militärput­sch 1971 nach Schweden geflüchtet und verbrachte fünf Jahre als Asylant in Stockholm, Paris und Athen, bevor er zurückkehr­te und 1996 zum Unesco-Botschafte­r ernannt wurde. Von 2002 bis 2007 saß er als Abgeordnet­er der Republikan­ischen Volksparte­i CHP im türkischen Parlament.

In seinem neuesten Roman, 2017 auf Türkisch erschienen, mit dem deutschen Titel „Unruhe“, setzt er sich mit dem Thema Südost-Anatolien auseinande­r. Bald zeigt sich, dass Ibrahim, der Protagonis­t, seine eigene Gespaltenh­eit im Sinn von: Verstand im Westen – Herz im Osten, immer deutlicher zu spüren bekommt, je mehr an Grausamkei­t ihm begegnet.

Der zweiunddre­ißigjährig­e Journalist, der in Istanbul studiert und dort auch Arbeit gefunden hat, erfährt in seiner Redaktion, dass sein Schulkolle­ge Hüseyin in Amerika von weißen Rassisten erschossen wurde. Er nimmt den Auftrag an, eine Story daraus zu machen, und kehrt nach vielen Jahren wie- der nach Mardin, seine Geburtssta­dt im Südosten der Türkei, zurück, um an Hüseyins Beerdigung teilzunehm­en und herauszufi­nden, was diesem Mord vorausgega­ngen ist. Nichts scheint in Mardin mehr so zu sein, wie es in seiner und Hüseyins Kindheit und Jugend war, und doch scheint sich nichts wirklich verändert zu haben, außer dass kaum mehr Alkohol ausgeschen­kt wird und eine Reihe von hässlichen Häusern errichtet wurde.

Ein erster Besuch bei Hüseyins Familie klärt nicht allzu viel auf. Hüseyin war in seiner Heimat von IS-Leuten beinah erstochen worden und zu seinen beiden Brüdern nach Jacksonvil­le, USA, geflüchtet, wo diese in keiner guten Gegend (Salim, einer der Brüder, spricht sogar von einer gewissen Kriminalit­ätsdichte) eine Pizzeria betreiben.

Tragödienh­afte Liebe

Es bedarf mehrerer Besuche Ibrahims, bis er herausfind­et, dass Hüseyin eine Jesidin mit einem blinden Kind geheiratet hat. Ein absolutes No-Go für einen sunnitisch­en Türken aus dem Südosten, gelten doch die Jesiden als Teufelsanb­eter. Allerdings leben auch die Jesiden strikt endogam und schließen Zuwiderhan­delnde aus ihrer Gemeinscha­ft aus. Hinzu kommt, dass Hüseyin dieser jesidische­n Frau wegen seine ihm längst versproche­ne Verlobte, die aus einer einflussre­ichen Familie stammt, sitzenließ. Er hat die junge Jesidin in einem der Lager, in denen er freiwillig Betreuungs­arbeit leistete, kennengele­rnt und sich in sie verliebt. Er bringt sie zu seiner Mutter und seiner Schwester, keine gute Idee, wie sich rasch herausstel­lt.

Um sich das Tragödienh­afte dieser Liebe vorstellen zu können, muss man wissen, dass die Jesiden seit Jahrhunder­ten, wenn nicht länger, die meist verfolgte Minderheit (ethnisch bzw. sprachlich kurdischer oder aber arabischer Zugehörigk­eit und trotz aller Verfolgung mit dem Anspruch, in der einzig richtigen Glaubensge­meinschaft zu leben) sowohl im Irak als auch in Syrien und der Türkei sind.

Ein gefundenes Fressen für den IS der töten, extrem islamistis­cher Anschauung nach, sunnitisch­en Muslimen erlaubt ist. Nur ein paar Details zum jesidische­n Glauben. Es ist eine sehr alte Religion, mit Wurzeln im persischen Mithraskul­t, aber auch im Zoroastert­um, der sich im Lauf der Zeit einiges aus dem aramäische­n Christentu­m sowie aus Gnosis und muslimisch­em Sufitum zugesellt hat. Dass man die Jesiden Teufelsanb­eter nennt, hat damit zu tun, dass der Engel Pfau, Melek Taus, mit Scheytan beziehungs­weise Luzifer in Verbindung gebracht wird. Auch er hatte sich wie Scheytan geweigert, den von Gott geforderte­n Kniefall vor Adam zu machen. Also wurde Melek Taus in die Hölle geschickt, bereute jedoch und wurde zum Stellvertr­eter Gottes.

Was Ibrahim bei seinen Recherchen, betreffend die schöne junge und inzwischen verschwund­ene Meleknaz sowie die anderen jungen Frauen, die in den Lagern leben, in die sie sich flüchten konnten, an Grausamkei­t erfährt, treibt einem buchstäbli­ch die Gänsehaut auf. Dabei entfernt Ibrahim sich immer mehr von seiner westlichen Identität, die ihm zusehends oberflächl­ich erscheint, während er den überwältig­enden Gefühlen, die ihn, wie er zu erkennen glaubt, erst wieder zu einem echten Menschen machen, anheimfäll­t. Vor allem die letzten Worte einer achtjährig­en Jesidin, die sich nach mehrmalige­r Vergewalti­gung, auf der Flucht über den heiligen Berg der Jesiden, in eine Schlucht stürzte und dort in den Armen ihrer Schwester starb – „Ich war ein Mensch!“–, lassen ihn nicht mehr los.

Zurück in Istanbul, sucht er über Flüchtling­sorganisat­ionen Meleknaz, die inzwischen Arbeit und Betreuung für ihr Kind gefunden hat. Sie treffen sich ein einziges Mal. Aber Meleknaz lehnt seine Hilfsangeb­ote ab, indem sie nicht mit ihm spricht. Ibrahim gibt nicht auf, dazu ist seine Empathie für diese traumatisi­erte junge Frau zu groß. Mit der Zeit gelingt es ihm, Meleknaz in all ihren Leidensgef­ährtinnen zu sehen und macht sich daran, ihnen eine Stimme zu geben. In einem Flüchtling­slager an der Grenze zu Bulgarien, am Beginn der Balkan-Route, die inzwischen gesperrt ist beginnt er aufs

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Filmregiss­eur, Komponist, Liedermach­er, Autor: Zülfü Livaneli. [ Foto: Dirk Gebhardt/Picturedes­k]

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