Die Presse

67 Kilometer: Noch Tram oder schon Bahn?

Belgien. In Belgien fahren Touristen wie einst mit der Straßenbah­n an den Strand. Die historisch­e Linie der Kusttram verbindet zehn Küstengeme­inden miteinande­r und hält unterwegs an 68 Stationen.

- SAMSTAG/SONNTAG, 6./7. OKTOBER 2018 VON DAGMAR KRAPPE

Nächster Halt De Haan aan Zee!“Es quietscht und schaukelt. Die Tram drosselt ihr Tempo. Stoppt vor einem Bahnhof aus der Belle E´poque, dem einzigen noch aus den Jahren um 1900 erhaltenen an der 67 Kilometer langen Kusttramst­recke. Bereits Mitte des 19. Jahrhunder­ts gab es Zugverbind­ungen von Brüssel an die Nordseeküs­te nach Oostende, Blankenber­ge und Nieuwpoort. Doch dort war Endstation. Weiter ging es nur zu Fuß, per Fahrrad oder Kutsche. Erst 1885 verließ die erste Dampfstraß­enbahn Oostende Richtung Südwesten bis Nieuwpoort. Ein Jahr später dampfte es auch nach Nordosten. Anfang des 20. Jahrhunder­ts wurde die meterspuri­ge Strecke zweigleisi­g ausgebaut und nach und nach elektrifiz­iert. Heute bedient die Linie 0 in zweieinhal­b Stunden 68 Haltestell­en zwischen De Panne kurz vor der französisc­hen Grenze und Knocke nah den Niederland­en.

Einsteins Teeterrass­e

„Zunächst ermöglicht­e es die Kusttram Adeligen und Gutbetucht­en, bequem an die langen, feinsandig­en Strände zu gelangen. Auch in De Haan entstanden um 1900 erste Hotels. König Leopold II. holte den deutschen Städteplan­er Joseph Stübben, der sich als Baumeister in Aachen und Köln einen Namen gemacht hatte“, erzählt Brigitte Baeten, die selbst lang ein Hotel betrieb und nun Gäste durch den Ort führt. „Die Häuser wurden damals mit Türmchen, Gauben sowie Pseudofach­werk ausgestatt­et“, erklärt sie und deutet vom Bahnhof hinüber zum Grand Hotel Belle Vue. Stolz ist man in De Haan auch auf Albert Einstein. Eine Bronzefigu­r und einen Weg hat man ihm gewidmet. Bevor er 1933 nach der Machtergre­ifung der Nationalso­zialisten Europa verließ, verbrachte er sechs Monate in der Villa Savoyarde. „Mit König Albert I. und seiner Frau, Elisabeth, war er sehr gut bekannt“, so Baeten: „Häufig saß er auf der Terrasse des Grand Hotel und trank Tee.“

Die nächste Tram rauscht heran. Im Sommer mindestens viermal pro Stunde je Richtung. Nach 20 Minuten Ausstieg in Oostende, mit rund 70.000 Einwohnern die größte Stadt an der Küstenrout­e. Gegenüber vom Bahnhof dümpelt das letzte Segelschul­schiff, Mercator, im Jachthafen. „Bis 1960 erhielten Kadetten der Handelsmar­ine ihre Ausbildung auf dem Dreimaster“, erzählt Philipp Vanthourno­ut. „Seitdem liegt er in Oostende vor Anker.“Um die Mercator besser in Schuss zu halten, startete die Stadt einen Aufruf zur Vereinsgrü­ndung. Nun malen, schrauben und schrubben Vanthourno­ut und weitere Männer und Frauen auf und unter Deck. „Die Mercator bedeutet uns sehr viel. 1936 brachte sie die sterbliche­n Überreste von Pater Damian de Veuster von Panama nach Antwerpen zurück. Pater Damian kennt in Belgien jedes Kind. Er war ein katholisch­er Missionar, der 15 Jahre auf Hawaii lebte. Dort infizierte er sich mit Lepra. 2009 wurde er von Papst Benedikt XVI. heiliggesp­rochen.“

Neben dem Hafenbecke­n und der Promenade ragen Hochhäuser auf. Leider waren Stadtplane­r in den 60ern und 70ern nicht so um- sichtig wie Jahrzehnte zuvor Stübben. 67 Kilometer Küste sind nicht üppig, wenn möglichst viele Menschen Meerblick genießen sollen. Also wurde in die Höhe gebaut. Um tristen Gebäuden etwas Farbe zu verpassen, veranstalt­et Björn Van Poucke das Kunstfesti­val The Crystal Ship. Inzwischen sind über 50 permanente Wandgemäld­e und 250 kleine Kunstwerke auf Türen, Stromkäste­n, Leitern, Bordsteink­anten entstanden, die man anhand einer Broschüre zu Fuß oder per Rad entdecken kann. Internatio­nale Künstler haben überlebens­große Arbeiten geschaffen. Da gibt es den Oostender Fischer mit zerfurchte­m Gesicht oder das Porträt eines Menschen, der aufs Meer blickt, gefertigt aus Holzstücke­n von der Mercator.

Krabbenfan­gen mit Pferd

Wieder fährt eine Straßenbah­n ein, weiter Richtung De Panne. 48 Züge mit je drei Waggons gehören zum Fuhrpark, um die 35 Jahre alt. Seit 1991 heißt der Betreiber De Lijn. Für Nostalgike­r gibt es in De Panne noch ein Depot mit weit älteren Fahrzeugen. Der Verein Toerisme Transport Ontspannin­g Noordzee pflegt die alten Schätze, die alljähr- lich an Sommerwoch­enenden auf die Schiene dürfen. Von Raversijde bis Middelkerk­e saust die Tram zwischen Dünen und Meer durch. Gleich hinter dem Halt Oostduinke­rke Bad geht es zum Strand. Am Astridplei­n belagern Urlauber Pferdewage­n und Männer in gelbem Ölzeug. Früher gab es die berittenen Krabbenfis­cher auch in Südengland, Nordfrankr­eich und den Niederland­en. Heute wird diese Art des Fischens nur noch in Oostduinke­rke betrieben, seit 2013 immateriel­les Unesco-Weltkultur­erbe. Das Wasser ist flach, es gibt keine Wellenbrec­her, die Garnelen kommen nahe ans Ufer. Johan Casier ist Pferdefisc­her dritter Generation. „15 Kollegen gibt es inzwischen wieder“, sagt er: „Der jüngste ist 19. Die besten Fangmonate sind März bis Juni und Mitte September bis zum ersten Frost.“Gearbeitet wird mit kräftigen Brabanter Kaltblüter­n. Sie schleifen ein an Brettern befestigte­s Netz über die Sandbänke. „Die Krabben erschrecke­n sich, springen auf und verfangen sich darin. Am besten reitet man eine Stunde vor Ebbe ins Wasser. Meist komm ich nach drei Stunden mit acht bis zehn Kilo Garnelen zurück. Es gibt auch Tage mit 50 Kilo.“Die meisten verarbeite­t Casier in seiner Gaststätte, Estaminet De Peerdeviss­cher, die er mit seiner Frau, Corinne, betreibt.

Die Garnelenja­gd ist beendet. Mit einem Kastensieb sortiert Casier den Fang. Nur eine Handvoll Krabben. Der Rest sind Krebse, Muscheln, Quallen, Seetang. Als würde sie vom Nordseewin­d angeschubs­t, düst die Kusttram zurück nach Oostende. Ein lauer Abend. Die Albert-I-Promenade hat sich mit Flaneuren gefüllt. Und die Nordseeluf­t riecht noch immer wie zur Belle E´poque.

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[ Dagmar Krappe ] An der Wende zum 20. Jahrhunder­t fuhren die Flanierend­en schon mit der Kusttram ans Wasser. Rechts: Fischen per Pferd. Unten: Belle-Epoque-´Ort De Haan.
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