67 Kilometer: Noch Tram oder schon Bahn?
Belgien. In Belgien fahren Touristen wie einst mit der Straßenbahn an den Strand. Die historische Linie der Kusttram verbindet zehn Küstengemeinden miteinander und hält unterwegs an 68 Stationen.
Nächster Halt De Haan aan Zee!“Es quietscht und schaukelt. Die Tram drosselt ihr Tempo. Stoppt vor einem Bahnhof aus der Belle E´poque, dem einzigen noch aus den Jahren um 1900 erhaltenen an der 67 Kilometer langen Kusttramstrecke. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts gab es Zugverbindungen von Brüssel an die Nordseeküste nach Oostende, Blankenberge und Nieuwpoort. Doch dort war Endstation. Weiter ging es nur zu Fuß, per Fahrrad oder Kutsche. Erst 1885 verließ die erste Dampfstraßenbahn Oostende Richtung Südwesten bis Nieuwpoort. Ein Jahr später dampfte es auch nach Nordosten. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die meterspurige Strecke zweigleisig ausgebaut und nach und nach elektrifiziert. Heute bedient die Linie 0 in zweieinhalb Stunden 68 Haltestellen zwischen De Panne kurz vor der französischen Grenze und Knocke nah den Niederlanden.
Einsteins Teeterrasse
„Zunächst ermöglichte es die Kusttram Adeligen und Gutbetuchten, bequem an die langen, feinsandigen Strände zu gelangen. Auch in De Haan entstanden um 1900 erste Hotels. König Leopold II. holte den deutschen Städteplaner Joseph Stübben, der sich als Baumeister in Aachen und Köln einen Namen gemacht hatte“, erzählt Brigitte Baeten, die selbst lang ein Hotel betrieb und nun Gäste durch den Ort führt. „Die Häuser wurden damals mit Türmchen, Gauben sowie Pseudofachwerk ausgestattet“, erklärt sie und deutet vom Bahnhof hinüber zum Grand Hotel Belle Vue. Stolz ist man in De Haan auch auf Albert Einstein. Eine Bronzefigur und einen Weg hat man ihm gewidmet. Bevor er 1933 nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten Europa verließ, verbrachte er sechs Monate in der Villa Savoyarde. „Mit König Albert I. und seiner Frau, Elisabeth, war er sehr gut bekannt“, so Baeten: „Häufig saß er auf der Terrasse des Grand Hotel und trank Tee.“
Die nächste Tram rauscht heran. Im Sommer mindestens viermal pro Stunde je Richtung. Nach 20 Minuten Ausstieg in Oostende, mit rund 70.000 Einwohnern die größte Stadt an der Küstenroute. Gegenüber vom Bahnhof dümpelt das letzte Segelschulschiff, Mercator, im Jachthafen. „Bis 1960 erhielten Kadetten der Handelsmarine ihre Ausbildung auf dem Dreimaster“, erzählt Philipp Vanthournout. „Seitdem liegt er in Oostende vor Anker.“Um die Mercator besser in Schuss zu halten, startete die Stadt einen Aufruf zur Vereinsgründung. Nun malen, schrauben und schrubben Vanthournout und weitere Männer und Frauen auf und unter Deck. „Die Mercator bedeutet uns sehr viel. 1936 brachte sie die sterblichen Überreste von Pater Damian de Veuster von Panama nach Antwerpen zurück. Pater Damian kennt in Belgien jedes Kind. Er war ein katholischer Missionar, der 15 Jahre auf Hawaii lebte. Dort infizierte er sich mit Lepra. 2009 wurde er von Papst Benedikt XVI. heiliggesprochen.“
Neben dem Hafenbecken und der Promenade ragen Hochhäuser auf. Leider waren Stadtplaner in den 60ern und 70ern nicht so um- sichtig wie Jahrzehnte zuvor Stübben. 67 Kilometer Küste sind nicht üppig, wenn möglichst viele Menschen Meerblick genießen sollen. Also wurde in die Höhe gebaut. Um tristen Gebäuden etwas Farbe zu verpassen, veranstaltet Björn Van Poucke das Kunstfestival The Crystal Ship. Inzwischen sind über 50 permanente Wandgemälde und 250 kleine Kunstwerke auf Türen, Stromkästen, Leitern, Bordsteinkanten entstanden, die man anhand einer Broschüre zu Fuß oder per Rad entdecken kann. Internationale Künstler haben überlebensgroße Arbeiten geschaffen. Da gibt es den Oostender Fischer mit zerfurchtem Gesicht oder das Porträt eines Menschen, der aufs Meer blickt, gefertigt aus Holzstücken von der Mercator.
Krabbenfangen mit Pferd
Wieder fährt eine Straßenbahn ein, weiter Richtung De Panne. 48 Züge mit je drei Waggons gehören zum Fuhrpark, um die 35 Jahre alt. Seit 1991 heißt der Betreiber De Lijn. Für Nostalgiker gibt es in De Panne noch ein Depot mit weit älteren Fahrzeugen. Der Verein Toerisme Transport Ontspanning Noordzee pflegt die alten Schätze, die alljähr- lich an Sommerwochenenden auf die Schiene dürfen. Von Raversijde bis Middelkerke saust die Tram zwischen Dünen und Meer durch. Gleich hinter dem Halt Oostduinkerke Bad geht es zum Strand. Am Astridplein belagern Urlauber Pferdewagen und Männer in gelbem Ölzeug. Früher gab es die berittenen Krabbenfischer auch in Südengland, Nordfrankreich und den Niederlanden. Heute wird diese Art des Fischens nur noch in Oostduinkerke betrieben, seit 2013 immaterielles Unesco-Weltkulturerbe. Das Wasser ist flach, es gibt keine Wellenbrecher, die Garnelen kommen nahe ans Ufer. Johan Casier ist Pferdefischer dritter Generation. „15 Kollegen gibt es inzwischen wieder“, sagt er: „Der jüngste ist 19. Die besten Fangmonate sind März bis Juni und Mitte September bis zum ersten Frost.“Gearbeitet wird mit kräftigen Brabanter Kaltblütern. Sie schleifen ein an Brettern befestigtes Netz über die Sandbänke. „Die Krabben erschrecken sich, springen auf und verfangen sich darin. Am besten reitet man eine Stunde vor Ebbe ins Wasser. Meist komm ich nach drei Stunden mit acht bis zehn Kilo Garnelen zurück. Es gibt auch Tage mit 50 Kilo.“Die meisten verarbeitet Casier in seiner Gaststätte, Estaminet De Peerdevisscher, die er mit seiner Frau, Corinne, betreibt.
Die Garnelenjagd ist beendet. Mit einem Kastensieb sortiert Casier den Fang. Nur eine Handvoll Krabben. Der Rest sind Krebse, Muscheln, Quallen, Seetang. Als würde sie vom Nordseewind angeschubst, düst die Kusttram zurück nach Oostende. Ein lauer Abend. Die Albert-I-Promenade hat sich mit Flaneuren gefüllt. Und die Nordseeluft riecht noch immer wie zur Belle E´poque.