Das Filet vom Bodensee
Untersee. Westlich von Konstanz füllt der Rhein ein kleineres, feineres, weniger bekanntes Becken des Bodensees. Die Ufer sind natürlicher, das Hinterland magisch, voller Vulkane, Streuobst – und einer Zauberzwiebel.
Der Wienerwald, heißt es, sei für viele Wiener ein unentdecktes Land, das man fast schon meidet. Er ist da, dicht vor der Stadt. Aber das ist wurscht.
Im Westen gibt’s auch so ein Phänomen: Da liegt Vorarlberg am Bodensee, Mitteleuropas drittgrößtem See, der mit seiner Fassung aus Bergen und Hügelland, Fachwerk, Wein und der badisch-württembergisch-bayerisch-vorarlbergischschweizerischen Kultur und Lebensart samt einem Hauch Atmosphäre vom nahen Frankreich eine der weltschönsten Regionen ist. Doch viele Vorarlberger ignorieren den Schatz: Gefühlsmäßig überspitzt halbiert sich das Interesse an der Wasserwunderwelt mit jedem Kilometer Abstand des Wohnorts vom See. „Was soll ich dort?“, murrten Freunde in Dornbirn, kaum zehn Kilometer oder zehn bis 15 Autominuten entfernt. „Des isch mir z’wit!“, tönte es in Feldkirch, läppische 20–30 Minuten im Süden.
Ach, ihr Kleinräumigen! Aber dann, an einem Frühherbstabend auf einer Uferwiese, Füße im Wasser, ein Glas Weißburgunder in der Hand, die Sonne steht tief und dottergelb, färbt die Wasserfläche dunkelblau und streut funkelnde Lichtkristalle darüber, Schwäne ziehen vorbei, von Streuobstwiesen duftet es apfelig und leicht vergoren, merkt man, dass man sogar als Bregenzer vier Jahrzehnte eine Seeschranke im Kopf hatte: Weil man nämlich erstmals am Untersee ist, jenem Teil des Bodensees, der sich im Westen aus dem viel größeren Obersee herausstülpt, nachdem der sich bei der deutschen Stadt Konstanz verengt und ein paar Kilometer weit als 100 bis 500 Meter breiter Seerhein fließt.
Der 62 Quadratkilometer große Untersee zwischen dem historischen Großherzogtum Baden im Norden und den Kantonen Thurgau und Schaffhausen im Süden und Westen gilt als stillerer, edlerer, natürlicherer Teil des Bodensees. Konstanz, die mittelalterliche Stadt an der Schweizer Grenze und Verwaltungssitz des gleichnamigen deutschen Landkreises am Untersee, ist nur 46 km Luftlinie von Bregenz entfernt, man sieht sie an klaren Tagen vom 1064 Meter hohen Pfänder aus. Aber im Kopf ist Konstanz doch weit weg von Bregenz.
Man kennt die Stadt als Ort des Konzils 1414–1418, auf dem drei Päpste um ihren Titel rangen und man die hussitischen Reformer Jan Hus und Hieronymus von Prag verbrannte. Aber Konstanz, bald wieder Schauplatz des Weihnachtsmarkts, ist eine eigene Geschichte. Der rund 820 km2 große Landkreis, fast doppelt so groß wie Wien, mit gut 280.000 Einwohnern, die in Weilern, Dörfern und wenigen mittleren Städten wie Radolfzell und Singen wohnen, hat indes noch mehr zu bieten. Ein Unmaß an Natur, sanftem Hügelland, wenig berührten Ufern, versteckten Buchten, Inseln, kleinen Nebenseen und ruppigen Bergrücken, wo der Herbst Blättermassen färbt.
Da sind gepflegte Naturschutzgebiete mit seltenen Pflanzen und Getier, etwa beim zwischen Wald und Wiesen eingebetteten Mindelsee auf der Landzunge Bodanrück östlich von Radolfzell. Oder das EU-zertifizierte Wollmatinger Ried bei Konstanz. Im dortigen Teil des Untersees bzw. dem Ermatinger Becken, erzählt eine Führerin vom Naturschutzbund, lebt im Sommer die Hälfte des (Wasser-)Vogelbestands des Bodensees, obwohl der Raum 0,6 Prozent der Seefläche stellt. Die Aussicht vom Beobachtungshaus über Schilfland, Schlickund Wasserflächen und zum grünen Schweizer Ufer ist genial.
Am Land sind viele Wanderund Radwege, Wiesen, die statt mit Obstplantagen meist noch mit Streuobstbäumen gespickt sind, Äpfel, Birnen, Zwetschken. Tief in der Schweiz sieht man bei halbwegs gutem Wetter die Alpen wie einen grauweißen Burgwall hochragen. Es gibt wenige Stellen, wo man angesichts der Aussicht, speziell auf den See, nicht „Hach!“sagen muss – sonst explodiert man!
Die Leute sind stolz auf die reichlichen Früchte des Bodens, auf Baumobst, Beeren, Kräuter, Spargel, Rettich, Wein. Gleich zwei Gärten Eden sind die superromantische In- sel Reichenau mit ihren drei romanischen Kirchen, wo Abt Walahfrid Strabo im 9. Jh. eine Wiege von Europas Gartenbau schuf, und die viel größere Halbinsel Höri: Ein breiter, teilweise mittelgebirgiger Landbalkon, der von der Radolfzeller Aach nahe dem gleichnamigen mittelalterlichen Städtchen bis Stein am Rhein hervorragt, wo der Hochrhein anfängt. Die Aach ist ein Kuriosum, denn sie entspringt 14 km Luftlinie im Norden einer Quelle, die von der jungen Donau genährt wird, obwohl die ihrerseits zwölf Ki-