Die Presse

Das Filet vom Bodensee

Untersee. Westlich von Konstanz füllt der Rhein ein kleineres, feineres, weniger bekanntes Becken des Bodensees. Die Ufer sind natürliche­r, das Hinterland magisch, voller Vulkane, Streuobst – und einer Zauberzwie­bel.

- VON WOLFGANG GREBER

Der Wienerwald, heißt es, sei für viele Wiener ein unentdeckt­es Land, das man fast schon meidet. Er ist da, dicht vor der Stadt. Aber das ist wurscht.

Im Westen gibt’s auch so ein Phänomen: Da liegt Vorarlberg am Bodensee, Mitteleuro­pas drittgrößt­em See, der mit seiner Fassung aus Bergen und Hügelland, Fachwerk, Wein und der badisch-württember­gisch-bayerisch-vorarlberg­ischschwei­zerischen Kultur und Lebensart samt einem Hauch Atmosphäre vom nahen Frankreich eine der weltschöns­ten Regionen ist. Doch viele Vorarlberg­er ignorieren den Schatz: Gefühlsmäß­ig überspitzt halbiert sich das Interesse an der Wasserwund­erwelt mit jedem Kilometer Abstand des Wohnorts vom See. „Was soll ich dort?“, murrten Freunde in Dornbirn, kaum zehn Kilometer oder zehn bis 15 Autominute­n entfernt. „Des isch mir z’wit!“, tönte es in Feldkirch, läppische 20–30 Minuten im Süden.

Ach, ihr Kleinräumi­gen! Aber dann, an einem Frühherbst­abend auf einer Uferwiese, Füße im Wasser, ein Glas Weißburgun­der in der Hand, die Sonne steht tief und dottergelb, färbt die Wasserfläc­he dunkelblau und streut funkelnde Lichtkrist­alle darüber, Schwäne ziehen vorbei, von Streuobstw­iesen duftet es apfelig und leicht vergoren, merkt man, dass man sogar als Bregenzer vier Jahrzehnte eine Seeschrank­e im Kopf hatte: Weil man nämlich erstmals am Untersee ist, jenem Teil des Bodensees, der sich im Westen aus dem viel größeren Obersee herausstül­pt, nachdem der sich bei der deutschen Stadt Konstanz verengt und ein paar Kilometer weit als 100 bis 500 Meter breiter Seerhein fließt.

Der 62 Quadratkil­ometer große Untersee zwischen dem historisch­en Großherzog­tum Baden im Norden und den Kantonen Thurgau und Schaffhaus­en im Süden und Westen gilt als stillerer, edlerer, natürliche­rer Teil des Bodensees. Konstanz, die mittelalte­rliche Stadt an der Schweizer Grenze und Verwaltung­ssitz des gleichnami­gen deutschen Landkreise­s am Untersee, ist nur 46 km Luftlinie von Bregenz entfernt, man sieht sie an klaren Tagen vom 1064 Meter hohen Pfänder aus. Aber im Kopf ist Konstanz doch weit weg von Bregenz.

Man kennt die Stadt als Ort des Konzils 1414–1418, auf dem drei Päpste um ihren Titel rangen und man die hussitisch­en Reformer Jan Hus und Hieronymus von Prag verbrannte. Aber Konstanz, bald wieder Schauplatz des Weihnachts­markts, ist eine eigene Geschichte. Der rund 820 km2 große Landkreis, fast doppelt so groß wie Wien, mit gut 280.000 Einwohnern, die in Weilern, Dörfern und wenigen mittleren Städten wie Radolfzell und Singen wohnen, hat indes noch mehr zu bieten. Ein Unmaß an Natur, sanftem Hügelland, wenig berührten Ufern, versteckte­n Buchten, Inseln, kleinen Nebenseen und ruppigen Bergrücken, wo der Herbst Blättermas­sen färbt.

Da sind gepflegte Naturschut­zgebiete mit seltenen Pflanzen und Getier, etwa beim zwischen Wald und Wiesen eingebette­ten Mindelsee auf der Landzunge Bodanrück östlich von Radolfzell. Oder das EU-zertifizie­rte Wollmating­er Ried bei Konstanz. Im dortigen Teil des Untersees bzw. dem Ermatinger Becken, erzählt eine Führerin vom Naturschut­zbund, lebt im Sommer die Hälfte des (Wasser-)Vogelbesta­nds des Bodensees, obwohl der Raum 0,6 Prozent der Seefläche stellt. Die Aussicht vom Beobachtun­gshaus über Schilfland, Schlickund Wasserfläc­hen und zum grünen Schweizer Ufer ist genial.

Am Land sind viele Wanderund Radwege, Wiesen, die statt mit Obstplanta­gen meist noch mit Streuobstb­äumen gespickt sind, Äpfel, Birnen, Zwetschken. Tief in der Schweiz sieht man bei halbwegs gutem Wetter die Alpen wie einen grauweißen Burgwall hochragen. Es gibt wenige Stellen, wo man angesichts der Aussicht, speziell auf den See, nicht „Hach!“sagen muss – sonst explodiert man!

Die Leute sind stolz auf die reichliche­n Früchte des Bodens, auf Baumobst, Beeren, Kräuter, Spargel, Rettich, Wein. Gleich zwei Gärten Eden sind die superroman­tische In- sel Reichenau mit ihren drei romanische­n Kirchen, wo Abt Walahfrid Strabo im 9. Jh. eine Wiege von Europas Gartenbau schuf, und die viel größere Halbinsel Höri: Ein breiter, teilweise mittelgebi­rgiger Landbalkon, der von der Radolfzell­er Aach nahe dem gleichnami­gen mittelalte­rlichen Städtchen bis Stein am Rhein hervorragt, wo der Hochrhein anfängt. Die Aach ist ein Kuriosum, denn sie entspringt 14 km Luftlinie im Norden einer Quelle, die von der jungen Donau genährt wird, obwohl die ihrerseits zwölf Ki-

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