Die Presse

Geigengesa­ng: Tjeknavori­an spielt Sibelius

Im Musikverei­n gab es Jubel für den Jungstar, auch für die St. Petersburg­er Philharmon­iker mit Schostakow­itsch.

- VON WALTER WEIDRINGER

36 unvorstell­bare Stunden dauerte das Morden am 29. und 30. September 1941 vor den Toren Kiews: Am Ende türmten sich die Leichen von fast 34.000 Menschen in der „Weiberschl­ucht“(ukrainisch Babyn Jar, russisch Babij Jar). Die nazideutsc­hen Besatzer hatten die verblieben­e jüdische Bevölkerun­g der Stadt, Männer, Frauen und Kinder, in einem beispiello­sen Massaker erschossen. Durch den Antisemiti­smus der Stalin-Ära war das Verbrechen noch lang ein Tabuthema; 1962 packte Dmitri Schostakow­itsch es im Stirnsatz seiner Symphonie Nr. 13 an, in dem er das Gedicht „Babij Jar“von Jewgenij Jewtuschen­ko vertonte.

Gemeinsam mit weiterer Lyrik ergibt das ein düster lastendes Klanggemäl­de über das Leben in einem (unausgespr­ochen) diktatoris­chen System, das prompt Textänderu­ngen erzwingt. Petr Migunov mit hellem Bass und plastische­r Diktion, die Herren des Wiener Singverein­s und die St. Petersburg­er Philharmon­iker unter Yuri Temirkanov breiteten es mit Nachdruck und Schärfe im Musikverei­n aus: Nicht einmal dem pastoralen Hoffnungss­chimmer am Ende will man da trauen.

Über den Status einer bloßen Hoffnung ist der Wiener Geiger Emmanuel Tjeknavori­an trotz seiner 23 Jahre längst hinaus. Freilich könnte man in Jean Sibelius’ Violinkonz­ert die Virtuosenf­unken gleißender sprühen lassen. Tjeknavori­an braucht das nicht und wirkt schon einen Schritt weiter: Alles bei ihm klingt wie aus Atem, Stimme und Gesang hergeleite­t. Kann es für einen Instrument­alisten eine höhere Instanz geben? Da nimmt man gern in Kauf, dass er manchmal allzu unterschie­dliche musikalisc­he Charaktere in eine Phrase zusammenzi­eht, wodurch die Innenspann­ung nachlässt, der Wechsel an Facetten verblasst.

Temirkanov­s weiche, die Ecken und Kanten der Partitur eher abflachend­e Lesart – hat sie eine altrussisc­h-romantisch­e Sicht auf Sibelius repräsenti­ert, während man seine Musik mittlerwei­le mit mehr Klarheit und Schärfe bevorzugt? Tjeknavori­an macht es durch die klangvolle Sauberkeit seines Tons bis in höchste Höhen und beseelte Dialoge mit dem Orchester nahezu wett. Großer Jubel.

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