Die Presse

Die Selbstaufl­ösung der Opposition im Nationalra­t

Österreich braucht moderne Reformregi­erung und eine seriöse Opposition.

- VON GEORG VETTER Dr. Georg Vetter (geboren 1962 in Wien) ist Rechtsanwa­lt und Präsident des Clubs Unabhängig­er Liberaler.

Vor der Nationalra­tswahl 2017 übertrafen sie sich wechselsei­tig an Warnungen, dass im Falle einer türkisblau­en Regierung das Ende des demokratis­chen Österreich drohe: Christian Kern, Matthias Strolz und Ulrike Lunacek. Mittlerwei­le ist die türkis-blaue Regierung Wirklichke­it geworden, und alle drei Genannten sind von der politische­n Bühne abgetreten.

Die nunmehr im Parlament vertretene­n Opposition­sfraktione­n setzen neuerdings alle auf Parteichef­innen: Pamela Rendi-Wagner, Beate Meinl-Reisinger und Maria Stern. Leicht werden sich diese Damen nicht tun – haben sie doch die von ihren Vorgängern hinterlass­enen Hypotheken mitzuschle­ppen. Wie soll man Parteien ernst nehmen, deren Chefs sich gerade dann zurückzieh­en, wenn die Bude angeblich am hellsten brennt?

Besonders schwer hat es Christian Kern seiner Nachfolger­in gemacht. Der Meister volksnaher Bestreitun­gen („Vollholler“, „Mumpits“) begründete seinen Abgang aus der Bundespoli­tik mit der Notwendigk­eit, auf europäisch­er Ebene den bevorstehe­nden Rechtsruck verhindern zu wollen. Selbstbewu­sst ließ er durchkling­en, dass er die Bürde des Spitzenkan­didaten für alle sozialdemo­kratischen Parteien auf sich nehmen würde.

Wenige Tage danach nahm er auch von dieser Heldentat Abstand und verabschie­dete sich ganz aus der Politik, womit er zu erkennen gab, dass die Gefährlich­keit des möglichen Unheils doch nicht so akut sein kann. Wie soll seiner bemitleide­nswerten Nachfolger­in in diesem Umfeld der Neuaufbau eines Bedrohungs­szenarios gelingen?

Wenn sich die Opposition ohne Fremdeinwi­rkung auflöst und der Regierung freie Fahrt lässt, entspricht dies nicht der inneren Logik einer funktionie­renden Demokratie. Die Ersatzoppo­sition einem widerspruc­hsfreudige­n Staatsfern­sehen und einer streikaffi­nen Gewerkscha­ft zu überlassen ist alles andere als konsistent. Wir brauchen eine Opposition jenseits von ORF und ÖGB.

Wir brauchen sie schon deshalb, weil die türkis-blaue Koalition nach wie vor eher wie eine perfektion­ierte PR-Agentur agiert: Von einer Pensionsre­form ist weit und breit keine Rede, Medien- und Demokratie­reform sind auf die lange Bank geschoben, auch auf dem Gebiet der Finanz-, Wirtschaft­sund Justizpoli­tik herrscht Flaute.

Man mag einwenden, dass die Regierung zunächst die EU-Präsidents­chaft abwarten sollte. Das kann man allerdings nicht für eine aktuelle Baustelle wie den Justizbere­ich gelten lassen.

Wenn die Staatsanwa­ltschaft Graz auf der Losung „Islamisier­ung tötet“eine Strafverfo­lgung aufbaut und gleichzeit­ig mehrere Salafisten nach 18 Monaten Untersuchu­ngshaft mangels Anklagesch­rift freilassen muss, ist ebenso Handlungsb­edarf gegeben wie in Sachen BVT.

Wenn drei Jahre nach dem Gefängnist­od eines vor dem Gesetz Unschuldig­en namens Rachat Alijew die letzten Datenspure­n, die in sein Heimatland führen könnten, gelöscht werden sollen und die österreich­ische Staatsanwa­ltschaft zum wiederholt­en Male in dieser Affäre eine fragwürdig­e Rolle spielt – man möge sich nur die richterlic­he Begründung des Freispruch­s der mutmaßlich­en Komplizen in Erinnerung rufen –, ist der Justizmini­sters gefragt: Wenn sich dieser der politische­n Verantwort­ung freiwillig entzieht, indem er seinem eigenen Weisungsre­cht misstraut, verlangt die Sorge um das Staatsganz­e Widerspruc­h.

Fazit: Wir brauchen eine moderne Reformregi­erung ebenso wie eine seriöse Opposition.

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