Die Selbstauflösung der Opposition im Nationalrat
Österreich braucht moderne Reformregierung und eine seriöse Opposition.
Vor der Nationalratswahl 2017 übertrafen sie sich wechselseitig an Warnungen, dass im Falle einer türkisblauen Regierung das Ende des demokratischen Österreich drohe: Christian Kern, Matthias Strolz und Ulrike Lunacek. Mittlerweile ist die türkis-blaue Regierung Wirklichkeit geworden, und alle drei Genannten sind von der politischen Bühne abgetreten.
Die nunmehr im Parlament vertretenen Oppositionsfraktionen setzen neuerdings alle auf Parteichefinnen: Pamela Rendi-Wagner, Beate Meinl-Reisinger und Maria Stern. Leicht werden sich diese Damen nicht tun – haben sie doch die von ihren Vorgängern hinterlassenen Hypotheken mitzuschleppen. Wie soll man Parteien ernst nehmen, deren Chefs sich gerade dann zurückziehen, wenn die Bude angeblich am hellsten brennt?
Besonders schwer hat es Christian Kern seiner Nachfolgerin gemacht. Der Meister volksnaher Bestreitungen („Vollholler“, „Mumpits“) begründete seinen Abgang aus der Bundespolitik mit der Notwendigkeit, auf europäischer Ebene den bevorstehenden Rechtsruck verhindern zu wollen. Selbstbewusst ließ er durchklingen, dass er die Bürde des Spitzenkandidaten für alle sozialdemokratischen Parteien auf sich nehmen würde.
Wenige Tage danach nahm er auch von dieser Heldentat Abstand und verabschiedete sich ganz aus der Politik, womit er zu erkennen gab, dass die Gefährlichkeit des möglichen Unheils doch nicht so akut sein kann. Wie soll seiner bemitleidenswerten Nachfolgerin in diesem Umfeld der Neuaufbau eines Bedrohungsszenarios gelingen?
Wenn sich die Opposition ohne Fremdeinwirkung auflöst und der Regierung freie Fahrt lässt, entspricht dies nicht der inneren Logik einer funktionierenden Demokratie. Die Ersatzopposition einem widerspruchsfreudigen Staatsfernsehen und einer streikaffinen Gewerkschaft zu überlassen ist alles andere als konsistent. Wir brauchen eine Opposition jenseits von ORF und ÖGB.
Wir brauchen sie schon deshalb, weil die türkis-blaue Koalition nach wie vor eher wie eine perfektionierte PR-Agentur agiert: Von einer Pensionsreform ist weit und breit keine Rede, Medien- und Demokratiereform sind auf die lange Bank geschoben, auch auf dem Gebiet der Finanz-, Wirtschaftsund Justizpolitik herrscht Flaute.
Man mag einwenden, dass die Regierung zunächst die EU-Präsidentschaft abwarten sollte. Das kann man allerdings nicht für eine aktuelle Baustelle wie den Justizbereich gelten lassen.
Wenn die Staatsanwaltschaft Graz auf der Losung „Islamisierung tötet“eine Strafverfolgung aufbaut und gleichzeitig mehrere Salafisten nach 18 Monaten Untersuchungshaft mangels Anklageschrift freilassen muss, ist ebenso Handlungsbedarf gegeben wie in Sachen BVT.
Wenn drei Jahre nach dem Gefängnistod eines vor dem Gesetz Unschuldigen namens Rachat Alijew die letzten Datenspuren, die in sein Heimatland führen könnten, gelöscht werden sollen und die österreichische Staatsanwaltschaft zum wiederholten Male in dieser Affäre eine fragwürdige Rolle spielt – man möge sich nur die richterliche Begründung des Freispruchs der mutmaßlichen Komplizen in Erinnerung rufen –, ist der Justizministers gefragt: Wenn sich dieser der politischen Verantwortung freiwillig entzieht, indem er seinem eigenen Weisungsrecht misstraut, verlangt die Sorge um das Staatsganze Widerspruch.
Fazit: Wir brauchen eine moderne Reformregierung ebenso wie eine seriöse Opposition.