Justizminister Trocs´´anyi sieht einen unlösbaren Konflikt mit Westeuropa, weil sein Land keine offene Gesellschaft wolle.
Ungarn.
Weiße Haare, rote Brille – in seinem Büro sinniert Ungarns Justizminister, Laszl´o´ Trocs´anyi,´ über europäische Grundwerte. Redefreiheit? Kürzlich musste er auf eine Rede an einer belgischen Uni verzichten, weil Aktivisten gegen den Auftritt eines „Orban-´Ministers“protestiertet hatten. Ein belgischer Fachverlag zog die Zusage zurück, seine juristischen Analysen zu veröffentlichen. Freiheit, sagt er, bedeutet im Westen heute nicht dasselbe wie im Osten.
Er und seine Regierung sitzen auf der „Anklagebank“der EU, wie auch Polen. Da das Europaparlament den sogenannten SargentiniBericht annahm, soll ein Verfahren nach Artikel 7 des Europa-Vertra- ges gegen Ungarn initiiert werden. Weil dort die Europäischen Grundwerte in Gefahr seien. „Aber was sind diese Grundwerte?“, fragt Trocs´anyi´ im Gespräch mit der „Presse“.
„Ungarn vertritt Werte, die in Ostmitteleuropa wichtig sind, im Westen aber an Bedeutung verloren haben“, sagt er. „Dort wird – als Folge der Werterevolution der 68er-Bewegung – das Individuum vergöttert.“Das sei der Kern des Konzepts der „offenen Gesellschaft“. „Wir hingegen stellten mit unserer neuen Verfassung 2011 das Gemeinwesen in den Vordergrund, unsere kollektive Identität: Wer sind wir, woher kommen wir? Was hält uns zusammen?“Die unterschiedliche Sicht führe zur unterschiedlichen Interpretation derselben Begriffe: „Nehmen wir ,Gleichheit‘. Im Westen wird daraus das Recht aller auf die Ehe abgeleitet, bei uns gilt die Ehe nur für Mann und Frau.“Die Unterschiede in der Sichtweise seien „teilweise so groß, dass wir manchmal sagen müssen: Da werden wir uns nicht einigen können.“
„Wenn eine Ideologie die eigene Sicht den anderen aufzwingt, ist das geistiger Totalitarismus.“Dieser „Totalitarismus“sei der Grund, warum er in Belgien nicht frei reden könne. Ein „ideologischer Krieg“finde statt zwischen den Vertretern einer „identitätslosen offenen Gesellschaft“und den Vertretern einer, wie er sagt, „homogeneren, identitätsbezogenen Gesellschaft“in den Ländern Ostmitteleuropas. Eine Front dabei sei der Sargentini-Bericht, und eine andere Front seien „gewisse internationale NGOs, die das Konzept der offenen Gesellschaft verbreiten und sich dabei wie Missionare gebärden“. Trocs´anyi´ spielt damit auf die von George Soros finanzierte Open Society Foundations an.
Es gehe auch um die Macht in Europa: Ein „neues Frankenreich wie unter Karl dem Großen“sei der Wunsch vieler EU-Politiker. Ein solches „Zentrum“aus Frankreich und Deutschland, ohne die Briten, sei aber ein Problem für die Ostmitteleuropäer: Welche Stellung soll Ostmitteleuropa darin haben? Stillhalten und abnicken, was im Zentrum entschieden wird?“
Die Vorwürfe des SargentiniBerichts weist Trocs´anyi´ als „oberflächliche Pauschalurteile“zurück. „Die Bewertung des Verfassungsgerichtes ist lächerlich“, sagt er. „Das ist ein sehr ernst zu nehmendes Gremium, das oft genug Gesetze kassiert. Alle offenen Fragen zum Justizsystem haben wir bis 2014 mit der EU gelöst. Jetzt wird das alles plötzlich wieder aufgegriffen.“Und das sei juristisch eine Verletzung des Verfahrensrechts.
Viel Kritik wird derzeit auch an seinem wichtigsten Reformvorhaben geäußert: Noch im November will er einen Gesetzesentwurf zur Erschaffung von Verwaltungsgerichten einreichen. „Die Hälfte der EU-Länder haben solche Gerichte“, sagt Trocs´anyi,´ konkret wolle er sich an das österreichische Modell anlehnen. „Wir arbeiten dabei eng mit den österreichischen Fachleuten zusammen.“Kritiker fürchten, dass durch die neue Gerichtsstruktur den herkömmlichen Gerichten Kompetenzen entzogen werden, weil sie zu unabhängig agieren. Etwa wenn – ein tatsächlicher Fall bei den jüngsten Wahlen – ein Streit über die Gültigkeit von Stimmzetteln behandelt wurde.