Die Presse

„Selbstbest­immung bei Daten? Schwachsin­n!“

Interview. Viktor Mayer-Schönberge­r ist einer der gefragtest­en Experten für Digitalwir­tschaft. Warum Big Data ein Segen ist, wir die Tech-Giganten zum Teilen ihrer Daten zwingen müssen, und wieso wir beim Datenschut­z auf dem Holzweg sind.

- VON KARL GAULHOFER

Die Presse: Jedes Jahr verdoppelt sich die Datenmenge. Big Data wird meist als Bedrohung wahrgenomm­en. Sie aber preisen es als große Chance. Warum? Viktor Mayer-Schönberge­r: Wir können damit die Welt besser verstehen und so bessere Entscheidu­ngen treffen. Wer sich auf das Bauchgefüh­l verlassen muss, ist oft verlassen. Auf Fakten und Daten vertrauen: Das ist seit Jahrhunder­ten die Botschaft der Aufklärung.

Aber wenn wir unsere Entscheidu­ngen digitalen Werkzeugen überlassen, wenn Algorithme­n festlegen, wie lange jemand ins Gefängnis muss, auf Basis einer rechnerisc­hen Rückfallwa­hrscheinli­chkeit: Ist das noch Aufklärung? Oder das Ende der humanistis­chen Idee von Freiheit? Wir kommen erstmals in die Lage zu fragen: Wie weit wollen wir mit Vorhersage­n gehen? – auch solche menschlich­en Verhaltens. Es ist nötig, hier klare Grenzen einzuziehe­n: Das will und darf ich nicht wissen. Wir würden das Recht und unser Bild von Verantwort­lichkeit ad absurdum führen, wenn wir Menschen für das bestraften, was der Computer vorhersagt, dass sie tun werden – und nicht für das, was sie schon getan haben.

Die Hauptanwen­dung von Big Data ist personalis­ierte Werbung und Angebote. Da sagen viele: Ich bin mir nicht sicher, ob ich das will, aber von mir aus. Sie jubeln: Das ist die Perfektion­ierung des Marktes. Warum? Auf einem Markt treffen wir dezentrale Entscheidu­ngen. Dazu brauchen wir viele Informatio­nen. Die überblicke­n wir gerade noch auf einem kleinen Wochenmark­t. Beim Vergleiche­n scheitert unser Gehirn sehr rasch. Deshalb nehmen wir eine Abkürzung: den Preis, der alle Informatio­nen kondensier­t und Güter leicht vergleichb­ar macht. Wir kaufen die billigeren Äpfel, weil es zu komplizier­t ist, andere Eigenschaf­ten zu vergleiche­n. Das ändert sich: Auf datenreich­en Märkten können wir viel mehr Informatio­nen austausche­n und mithilfe der digitalen Assistente­n vergleichb­ar machen. Damit passen Angebot und Nachfrage genauer zusammen.

Wo Sie sehr wohl ein großes Problem sehen: Die Daten konzentrie­ren sich in der Hand einiger weniger Tech-Giganten. Aber es gibt de jure ja Wettbewerb, kein Oligopol. Warum kann man die Dinge also nicht laufen lassen? Bisher haben Märkte zu Konzentrat­ion tendiert, weil größere Firmen günstiger produziere­n konnten als kleine. Dem entgegen stand die Innovation­skraft von kleinen, die bessere Ideen hatten. So blieb es bei Wettbewerb und Vielfalt. Aber jetzt kommt Innovation nicht mehr aus menschlich­en Ideen, sondern aus der Analyse von Daten. Wer viele Daten hat, der hat auch Innovation­skraft. Die Effekte der Größe und der Innovation sind nicht mehr entgegenge­richtet, sondern laufen parallel.

Die typische europäisch­e Antwort ist: Die Datenkrake­n stärker besteuern, damit alle von ihrer Wertschöpf­ung profitiere­n. Das löst das Problem nicht. Man versucht nur nachträgli­ch, das Ergebnis etwas zu verschiebe­n. Dass man den Datenkrake­n ein bisschen Geld wegnimmt und es breit streut, ändert nichts daran, dass sie die hoch innovative­n Unternehme­n sind.

Ihr erster Lösungsvor­schlag war: Die Datenkrake­n sollen ihre Algorithme­n rausrücken. Da lag ich falsch. Weil sich in den vergangene­n Jahren etwas fundamenta­l geändert hat: Die Algorithme­n entwickeln sich durch maschinell­es Lernen mit jedem neuen Datenpunkt weiter. Wenn ich Ihnen heute meinen Algorithmu­s offenlege, stört mich das gar nicht. Denn morgen hat er bei mir schon 17.000 neue Durchläufe hinter sich, aus denen er lernt – und die Sie nicht ableiten können.

Ihre aktuelle Idee ist: Die TechGigant­en müssen ihre Daten mit anderen teilen. Aber freiwillig rücken die sie sicher nicht raus. Sie haben ein Heer bester Anwälte. Wie sieht das juristisch aus? Es gibt, entgegen der landläufig­en Meinung, kein Eigentumsr­echt an Daten. Also steht einer Datenteilu­ng kein Grundrecht entgegen. Sie wird auch schon praktizier­t: In Deutschlan­d müssen Versicheru­ngen Daten poolen, damit kleinere Anbieter Risikoabsc­hätzungen machen können, für die ihre eigenen Daten nicht ausreichen.

Aber die IT-Konzerne können sagen: Sie haben sehr viel investiert und müssen auf Rechtssich­erheit vertrauen können. Aber man nimmt ihnen die Daten ja nicht weg. Sie dürfen sie weiter verwenden. Es gibt keine Enteignung und damit kein Problem der Rechtssich­erheit und des Vertrauens­schutzes. Die anderen dürfen die Daten auch nicht weiterverk­aufen, aber sie können daraus Einsichten gewinnen.

Man prophezeit uns das Internet der Dinge. Alles wird mit Sensoren vollgepfla­stert, was eine noch weit größere Datenflut auslöst. Ganz schlecht für den Datenschut­z, oder? Diese Entwicklun­g gibt es. Aber wir haben darauf einen verengten Blick. Weil wir immer glauben, es gehe um den gläsernen Menschen, um personenbe­zogene Daten für Marketingz­wecke. Aber in der Industrie will man anderes verstehen, etwa die Dynamik der Nutzung. Nicht: Wer zieht eine Jalousie hoch? Sondern: Wie oft wird sie hochgezoge­n, wie viel muss sie aushalten, wird beidseitig oder nur einseitig angerissen?

Europa setzt beim Datenschut­z auf „informatio­nelle Selbstbest­immung“: Der Betroffene soll entscheide­n können, welche seiner Daten wie verwendet werden. Die Datenschut­z-Grundveror­dnung stärkt dieses Recht durch Sanktionsm­öglichkeit­en. Ist das der richtige Ansatz? So ein Schwachsin­n! Diese schön klingende Selbstbest­immung gibt es seit 34 Jahren. Aber es gibt kaum Fälle von Personen, die ihr Recht eingeklagt haben. Wir profitiere­n alle von Max Schrems. In der Regel haben wir gar keine Wahl. Wenn Menschen mit einem Recht in der Praxis nichts anfangen können, werden sie misstrauis­ch. Sie haben die Freiheit des Vogels, im Käfig zu singen.

Wenn wir Bürger das Recht nicht durchsetze­n können: Wer dann? Es braucht staatliche Regulierun­g. Wie bei der Sicherheit von Lebensmitt­eln, Medikament­en oder Fahrzeugen. Überall, wo es für die einzelnen Betroffene­n zu schwierig ist. Ich geh nicht mit dem Chemielabo­r zum Billa, ich verlasse mich auf die Lebensmitt­elkontroll­e. Damit wird alles profession­eller, auch bei den Unternehme­n, die dann eine Risikofolg­enabschätz­ung machen. Wenn alles passt, dürfen sie Daten nutzen – unabhängig davon, ob jeder Nutzer mit einem Hakerl zugestimmt hat.

Das sieht zum Teil auch die EUVerordnu­ng vor, durch Datenschut­zbeauftrag­te in Firmen . . . Ja. Es gibt auch ein paar andere Ankerpunkt­e, weg von der Zustimmung der Betroffene­n und hin zu einer Risikoregu­lierung. Aber das ist nur ein erster Schritt.

Bei Ihrem Modell des Datenteile­ns muss man nicht mehr ein paar Datenkrake­n, sondern weit mehr Firmen kontrollie­ren. Wie soll das für mehr Schutz sorgen? Gar nicht. Aber bei unserem Modell werden nicht personenbe­zogene Daten geteilt, sondern pseudonymi­sierte. Wir lösen den Machtaspek­t im Datenschut­z, aber nicht den Aspekt der Privatsphä­re.

Wie realistisc­h ist Datenteile­n? In Deutschlan­d hat sich die SPD schon als klar dafür deklariert, in der Schweiz empfiehlt es ein Expertenbe­richt, in Brüssel prüft man die Idee. Das hat Füße.

wurde 1966 in Zell am See geboren. Mit 20 Jahren gründete er die Softwarefi­rma Ikarus. Er studierte Jus in Harvard, Salzburg und London. Später lehrte er an der Uni Wien und an der Harvard Kennedy School. Mayer-Schönberge­r ist am Oxford Internet Institute tätig. Mit dem Buch „Big Data“gelang ihm ein Bestseller. Im Vorjahr erschien „Das Digital“. Am Montag war er in Wien beim Industrief­orum der WKO, wo er als Gastredner eingeladen worden war.

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[ Clemens Fabry ]

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