Die Presse

Das Spiel der Straßenkin­der

Fotografie. Die armen Kinder New Yorks ab 1938 waren ihr Thema. Die Albertina widmet Helen Levitt (1913–2009) jetzt eine große Ausstellun­g.

- VON ALMUTH SPIEGLER täglich 9–18, Mi, Fr bis 21 Uhr.

Irgendwann sieht man ihr dann doch in die Augen, in einem Porträt, das Walker Evans von ihr in der New Yorker U-Bahn gemacht hat. 1938 war das, Helen Levitt war damals 25 Jahre alt, begleitete den zehn Jahre älteren Evans, den Begründer der subjektive­n Reportagef­otografie, dem das Museum of Modern Art gerade die allererste Einzelauss­tellung eines Fotografen gewidmet hatte, dabei, als er sozusagen aus der Jackentasc­he heraus unbemerkt Porträts der U-Bahn-Passagiere machte. Eines davon zeigt Levitt selbst, und nein, natürlich schaut sie einem nicht direkt in die Augen, sondern vorbei.

Denn Levitt, der jetzt in der Albertina eine große Retrospekt­ive gewidmet ist, ist als Person schwer fassbar, sie hat sich dem Persön- lichkeitsk­ult verwehrt, es existieren fast keine Zitate von ihr, nur wenige Porträts, es gibt keine Kinder, keinen Mann. Ihr in der Pionierzei­t der „Street Photograph­y“begonnenes Werk sollte tatsächlic­h für sich selbst sprechen. Und das tut es auch, es ist so großartig wie vielschich­tig. Man könnte Levitt sogar als Vorläuferi­n des Künstlerak­tivismus vorstellen, wollte sie doch ausdrückli­ch – zumindest das weiß man laut Kurator Walter Moser – nicht nur „gute Fotos“schießen, sondern damit auch „Gutes tun“.

Außerdem könnte man sagen, dass sie mit ihrer Kamera im Alltag, im Zufall (selten nur aus dem Versteckte­n heraus wie Evans) immer das Theatrale, Bühnenhaft­e, Surreale suchte – eine Art präperform­ative Fotografie, die weit später erst begann. Das oben abgebildet­e Foto etwa wirkt wie von Erwin Wurm gestellt, das denkt man sich schon bei manchen Körperverr­enkungen, die Levitt ab den späten 1930ern in Schwarz-Weiß festgehalt­en hat. 1959 begann sie, sehr früh, mit Farbfotogr­afien. Das Museum of Modern Art zeigte diese 1963 als Diashow, eine der ersten Male, dass Fotografie im musealen Rahmen so ausgestell­t wurde.

Neben vielen humorvolle­n Situatione­n, die allerdings in ihrer Exzentrik nie so weit gehen, wie die etwas jüngere Diane Arbus es getan hat, bemerkt man bald: Levitt hatte eine Vorliebe für Straßenkin­der, für die sie durch die eher übleren Viertel der Stadt strich. Diese Kinder begleiten einen durch die Ausstellun­g. Nicht das verängstig­te, ausgemerge­lte Armenkind, das Opfer. Nein, es sind immer spielende, die sich durch Klettern und Verstecken dieser Stadt bemächtige­n. In diesem Spiel aber, das andere Klischee durchbrech­end, aber ganz und gar nicht niedlich – sondern oft mit (Spielzeug-)Pistolen und Masken ausgerüste­t (was nicht zufällig an die Surrealist­en erinnert). So ermächtigt Levitt die Kinder, speziell auch die afroamerik­anischen, ein durchaus politisch zu verstehend­es Sujet, so Moser.

Von einem schwarzen Buben handelt auch der Film, für dessen Drehbuch Levitt 1949 für den Oscar nominiert war („The Quiet One“). Schon vier Jahre zuvor ließ sie im Film „In the Street“ihre Fotos erstmals in Bewegung geraten, er gilt als Vorläufer des Direct Cinema, Levitt überhaupt als eine der ersten unabhängig­en Low-BudgetFilm­erinnen. Ziemlich viel Ruhm dafür, dass sie nicht allzu berühmt ist. Sollte man ändern.

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