Wahl stürzt Koalition in Turbulenzen
Bundespolitik. Die SPD taumelt in ein Fiasko, in der Union scheint Kanzlerin Angela Merkel nicht mehr ungefährdet.
Wien/Berlin. Nach Wahlpartys war den Koalitionsparteien in Berlin nicht zumute. Die SPD hat ihr Fest im Willy-Brandt-Haus gleich ganz abgesagt – aus Kostengründen, wie es offiziell heißt. Es war indes schon im Vorfeld klar, dass es am Sonntagabend nichts zu feiern geben würde. Die Sozialdemokraten sollten recht behalten: Sie schlitterten in Bayern in ein historisches Fiasko – eine Halbierung ihrer Stimmenzahl, hinter Grüne, die AfD und die Freien Wähler, schlimmer noch als in den Freistaaten im Osten Deutschlands, in Sachsen und Thüringen, die in einem Jahr Landtagswahlen abhalten werden.
Nur Andrea Nahles konnte sich nicht der Öffentlichkeit entziehen. Die SPD-Chefin hatte bereits in einem „Zeit“-Interview ihren Koalitionspartnern ausgerichtet, sich endlich auf die Sacharbeit zu konzentrieren – eine unverhohlene Drohung, die Regierung platzen zu lassen. Sie steht unter dem zunehmenden Druck des linken Parteiflügels um Juso-Chef Kevin Kühnert, der die Neuauflage der Koalition mit CDU/CSU ohnedies vehement abgelehnt hat und seither zu einem Shootingstar der SPD avancierte.
Die Koalitionspolitiker gingen auf Tauchstation. CDU wie SPD gaben die Losung aus, keine Führungsdiskussion loszutreten und bis zur Landtagswahl in zwei Wochen in Hessen ruhigzuhalten und die Kräfte zu sammeln für den Endspurt des Wahlkampfs. Die Christdemokraten haben für kommenden Sonntag ihre höchsten Gremien, das Präsidium und den Bundesvorstand, zu einer Sondersitzung im Berliner KonradAdenauer-Haus einberufen, um noch einmal alle Kräfte zu mobilisieren.
Wende im „roten“Hessen?
Die hessische CDU unter Ministerpräsident Volker Bouffier, die mit den Grünen eine reibungslose Koalitionszusammenarbeit pflegt, ist in den Umfragen mittlerweile unter die 30-Prozent-Marke gefallen. Eine Regierung ohne Beteiligung der CDU im einst traditionell „roten“Hessen wäre somit theoretisch möglich. In Hessen hat die SPD bereits in den 1980er-Jahren mit den Grünen um Joschka Fischer koaliert. Auch hier schwelgen die Grünen derzeit in einem Umfragehoch, während die SPD auf der Stelle tritt.
Auch auf Bundesebene sind die jüngsten Umfragedaten für die beiden Volksparteien
alarmierend: Die Union ist demnach auf 26 Prozent abgesunken. SPD und Grüne liegen gleichauf bei 17 Prozent, knapp vor der AfD mit 15 Prozent. Die Linke und die FDP folgen mit Abstand bei elf bzw. neun Prozent.
Bouffier, einer der Stellvertreter Angela Merkels in der CDU, hat die Verantwortung für die schlechten Umfragewerte der Schwesterpartei CSU zugeschrieben – wie übrigens auch Andrea Nahles. „Die CSU hat der Union in der letzten Zeit viel Vertrauen gekostet. Man kann nicht den Eindruck erwecken, dass vieles durcheinandergeht und die Regierung nicht handlungsfähig ist“, sagte der hessische Regierungschef in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“– eine explizite Kritik an CSU-Chef Horst Seehofer.
Rumoren in der CDU
Es rumort längst auch in den Reihen der CDU. Die Abwahl des Fraktionschefs Volker Kauder und die Kür des weithin unbekannten westfälischen Abgeordneten Ralf Brinkhaus zu seinem Nachfolger vor drei Wochen war auch ein schallendes Misstrauensvotum gegen die Kanzlerin. Angela Merkel sah sich hinterher genötigt, die Kritiker zum Verstummen zu bringen. Sie werde beim Parteitag im Dezember in Hamburg neuerlich als Vorsitzende antreten, verkündete sie. Sie betonte, sie halte es für sinnvoll, die Ämter der Regierungs- und der Parteichefin in einer Hand zu behalten. Es ist ihr Credo, seit sie vor 13 Jahren zur Kanzlerin gewählt wurde.
Ungefährdet ist sie dennoch nicht. Es kursieren Stimmen in der CDU, die eine Ämtertrennung favorisieren. In einem solchen Szenario würde Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer das Amt der CDU-Chefin übernehmen, um später die Nachfolge Merkels auch als Regierungschefin anzutreten. Bei der Tagung der Jungen Union kürzlich in Kiel blieben die Buhrufe für Merkel und die Proteste gegen ihre Politik aber aus.
Doch Norbert Röttgen, der frühere Umweltminister, wagte sich in einem „Spiegel“Interview aus der Deckung. Es reiche nicht, eine Sitzung zu leiten, ätzte er. Es gehe darum, eine Regierung zu führen. Ihre Position wollte er allerdings nicht offen infrage stellen – ähnlich wie Wolfgang Schäuble, der Bundestagspräsident, der indessen von „Erschütterungen“nach der Bayern-Wahl sprach und die Kanzlerin in diese Analyse einbezog. Ihre Position sei nicht mehr unbestritten wie in den drei Legislaturperioden zuvor, erklärte der 76-Jährige. Er fügte hinzu, dass europäische Regierungschefs sie gleichwohl um ihre Umfragewerte beneiden würden. Eine Wiederwahl Merkels beim Parteitag hält der CDU-Doyen für wahrscheinlich.
Die Grünen halten sich bereit
Auf die Koalition in Berlin kommen jedenfalls Turbulenzen zu. Die größte Unsicherheit geht indessen von der SPD und der CSU aus. Womöglich stürzt die Hessen-Wahl die SPD in ein Dilemma, der Druck für einen Ausstieg könnte übermächtig werden. Für die Hälfte der Amtszeit ist ohnehin eine Revisionsklausel vorgesehen. Die Grünen, beflügelt durch ihr Hoch und ihr neues Führungsduo Habeck/Baerbock halten sich als mögliche Alternative bereit.