Europas Börsen sind schon länger in der Krise
Die US-Indizes sind kürzlich unter ihre 200-Tage-Linien gefallen. Das gilt als böses Omen. Diesseits des Atlantiks sieht es schon länger trist aus. Möglicherweise bleibt den Anlegern ein abrupter Absturz erspart und es geht schleichend nach unten.
Vorige Woche hat es an den Börsen kräftig gerumpelt. Experten diskutieren wieder, wie lang es noch dauern wird, bis der sogenannte längste Bullenmarkt der Geschichte ein Ende findet. Charttechnisch zeigt sich tatsächlich ein unerfreuliches Bild. An der Wall Street sind sowohl der breit gefasste S&P 500 als auch der technologielastige Nasdaq 100 unter die 200-Tage-Linie gefallen.
Das gilt als böses Omen. Bei der 200-Tage-Linie handelt es sich um den gleitenden Durchschnitt der Schlusskurse der zurückliegenden 200 Tage; für jeden Tag wird dieser Wert berechnet, alle Punkte werden zu einer Linie verbunden. Wenn nun der Kurs die 200-Tage-Linie von oben durchbricht, bedeutet das meist weitere Kursverluste. Allerdings ist so etwas in den vergangenen Jahren ein paarmal passiert, ohne dass der Bul- lenmarkt geendet hätte. Etwa vergangenen April beim S&P 500, nachdem es zwei Monate zuvor zu einem Minicrash gekommen war. Der Spuk war nur von sehr kurzer Dauer, der langfristige Aufwärtstrend erwies sich dann doch als stärker. Manchmal dauerte es auch etwas länger, bis sich die Kurse wieder erholten, etwa im Herbst 2015 und dann wieder Anfang 2016, als viele eine harte Landung der chinesischen Wirtschaft fürchteten. Die Börsen haben sich auch von diesen Einbrüchen erholt. Derzeit sieht es noch weniger schlimm aus als damals: Die 200-Tage-Linie weist bei den beiden großen US-Indizes noch deutlich nach oben (das tat sie 2016 nicht immer).
Trister schaut in es Europa aus. DAX, ATX und EuroStoxx 50 sind nicht erst vorige Woche unter ihre 200-Tage-Linien gefallen, sondern schwächeln seit Monaten. Alle drei Indizes haben seit Jahresbeginn verloren (was beim DAX umso schwerer wiegt, weil in diesen auch Dividenden einberechnet werden und nicht ein- mal die einen Rückgang von zehn Prozent verhindern konnten). Noch ein unschönes Signal zeigt sich: Viele Indizes haben Todeskreuze ausgebildet. Das bedeutet, dass die 50-TageLinie (also der kurzfristigere Trend) unter die 200-Tage-Linie gefallen ist. Noch dazu weisen die 200-TageLinien nach unten, was auf einen manifesten Abwärtstrend hinweist.
Nun kann man über die Relevanz von Charttechnik streiten. Einige halten den Versuch, aus einem historischen Kursverlauf auf die Zukunft zu schließen, für Kaffeesudleserei. Andere meinen, es handle sich um selbsterfüllende Prophezeiungen: Potenzielle Anleger sehen, dass sich ein Todeskreuz gebildet hat, und investieren vorerst nicht.
Umstritten ist, ob derlei charttechnische Signale eine Trendwende vorhersagen oder lediglich anzeigen, welcher Trend gerade vorherrscht. Denn um zu sehen, dass Europas Börsen sich nicht gerade in einem Höhenflug befinden, benötigt man keine charttechnischen Spielereien. Gründe gibt es – von den italienischen Budgetproblemen bis hin zu den unsicheren Brexit-Umständen – genug.
In einem Bärenmarkt befinden sich Europas Börsen zwar noch nicht: Davon spricht man erst, wenn die Kurse vom Höchststand weg um 20 Prozent nachgegeben haben. (Wobei man auch sagen könnte, dass der ATX seit der Finanzkrise 2008 in einem Bärenmarkt feststeckt und der EuroStoxx 50 seit dem Platzen der Dotcom-Blase in den frühen 2000er-Jahren.)
Doch der Höhepunkt des Zyklus könnte in Europa schon vorbei sein. (In den USA schaut es noch nicht danach aus.) Möglicherweise bleibt den Anlegern aber ein abrupter Einbruch wie im September 2008 erspart, und es geht langsam und schleichend nach unten. Wissen kann man das nicht. Panik ist nicht angesagt, aber es kann nicht schaden, auch ein wenig Cash bereitzuhalten, falls es zu wirklich tiefen Einbrüchen kommt.