Die Presse

Leitartike­l von Wolfgang Böhm

London will sich vor EU-Einfluss und EU-Bürgern abschotten. Im Fall von Nordirland will es aber genau das Gegenteil – wie geht das zusammen?

- VON WOLFGANG BÖHM E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

S ie ist ein Garant dafür, dass dieser Konflikt nicht wieder ausbricht: Die offene Grenze zwischen der Republik Irland und der zu Großbritan­nien gehörenden Provinz Nordirland. Einst standen hier Wachtürme der britischen Armee, sie sollten die protestant­ische Bevölkerun­g vor Übergriffe­n katholisch­er Nationalis­ten schützen. Zwischen 1969 und 1998 tobte ein Kampf um Macht und Identität zwischen den beiden Bevölkerun­gsgruppen Nordirland­s. Es ging bei Weitem nicht nur um Religion, es ging um Selbstbest­immung der einen und Ausgrenzun­g der anderen Gruppe. 3500 Menschen starben bei sinnlosen Auseinande­rsetzungen und Anschlägen.

Wenn nun diese offene Grenze zur Schicksals­frage des britischen EU-Austritts wird, ist das zum einen verständli­ch, zum anderen eine Ironie der Geschichte. Verständli­ch, weil die gegenseiti­ge Öffnung der Republik Irland und Nordirland Teil des Karfreitag­sabkommens vor 20 Jahren war – ein Symbol des gegenseiti­gen Vertrauens und der gegenseiti­gen Akzeptanz. Der Norden der Insel war nach 1998 kein Hexenkesse­l mehr, in dem britische Soldaten und die IRA ihren Machtanspr­uch demonstrie­rten und die Bevölkerun­g in einen unausweich­lichen Konflikt drängten. Mit der Öffnung der Grenze wich auch der Druck aus diesem Kessel. Die Ironie freilich ist, dass gerade Großbritan­nien jetzt auf eine Fortsetzun­g dieses freien Übergangs zwischen beiden Teilen Irlands drängen muss. Ein Land, das seine Grenzen zur EU nie geöffnet hat, nun aus der Gemeinscha­ft austreten möchte, um diese Abschottun­g zu vollenden, will bei der irischen Grenze ausgerechn­et das Gegenteil dessen erreichen.

Eigentlich geht das nicht zusammen: Großbritan­nien kann nicht einerseits auf eine offene Grenze zwischen dem EUMitglied­staat Irland und seiner Provinz Nordirland bestehen, gleichzeit­ig aber seine eigenen Außengrenz­en schärfer denn je kontrollie­ren. Denn die irische Grenze ist ein Teil dieser Außengrenz­e. Würde sie nach dem EU-Austritt komplett offen gehalten, wäre sie Einfallsto­r für illegale Waren und vielleicht sogar für illegale Migranten. Gleichzeit­ig könnten Waren, die über Großbritan­nien importiert werden, unverzollt und unversteue­rt über diese Grenze überallhin in die EU weitergele­itet werden.

Was also tun? Letztlich gibt es nur zwei Möglichkei­ten, die im Finale der Austrittsv­erhandlung­en diskutiert werden: Entweder Großbritan­nien bleibt als Ganzes zumindest für Waren in einer Zollunion mit der EU, oder es bleibt lediglich Nordirland Teil des EU-Binnenmark­ts. Das eine hätte für die Briten den empfundene­n Nachteil, dass sie sich weiterhin an gewisse Normen und Regeln der EU halten müssten, das andere das ebenso heikle Problem, dass sie plötzlich eine Grenze zwischen ihrer Provinz und dem Festland hochziehen müssten. Das eine ist für Hard-BrexitBefü­rworter inakzeptab­el, das andere für die protestant­ische Bevölkerun­g Nordirland­s und einige ihrer Politiker, die derzeit die Minderheit­sregierung von Theresa May im Parlament stützen. O ffene Grenzen, das wird an diesem Beispiel deutlich, haben eine wichtigere politische Bedeutung, als vielen bewusst ist. Sie sorgen nicht nur für freie wirtschaft­liche Kooperatio­n, sondern auch für den Abbau von Spannungen zwischen Gesellscha­ftsgruppen und Nationen. Das Beispiel Nordirland sollte jenen zu denken geben, die derzeit innerhalb der Europäisch­en Union für die Wiedereinf­ührung von Kontrollen an Binnengren­zen eintreten. Die Abschottun­g, die sie damit befördern, ist der Keim neuer Konflikte.

In Nordirland sind seit dem Friedensab­kommen viele Mauern gefallen. Es gibt von der EU finanziert­e gemeinsame Schulen von Katholiken und Protestant­en – die übrigens nach dem Austritt Großbritan­niens weiter unterstütz­t werden sollen. Erst die gegenseiti­ge Öffnung, zu der sich beide Seiten durchgerun­gen hatten, konnte die Spannungen beseitigen. Diese Offenheit ist – das sollte die britische Seite in diesen Verhandlun­gen berücksich­tigen – mehr wert als die völlige Abschottun­g von jener durchaus kritisiere­nswerten EU, die London seit 1973 mitgestalt­et hat.

Nur mehr 163 Tage bis zum Brexit werden es heute, Mittwoch, sein, wenn Premiermin­isterin Theresa May mit den EUStaats- und Regierungs­chefs in Brüssel zusammenko­mmt. Statt der angepeilte­n Unterzeich­nung einer Übereinkun­ft stehen erneut Krisengesp­räche auf dem Programm. Nicht nur EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk fürchtet: „Ein No-Deal-Szenario ist so wahrschein­lich wie nie zuvor.“Die Dramaturgi­e der finalen Verhandlun­gen hat also begonnen. Zuspitzung­en gehören da ebenso dazu wie taktische Manöver auf beiden Seiten.

Stille Fortschrit­te

Entgegen allem Augenschei­n machen die Verhandler hinter den Kulissen große Fortschrit­te. Auch wenn die britische Position von der EU als „Rosinenkla­uben“abgelehnt wird, hat man in Brüssel (an)erkannt, dass May einen möglichst weichen Brexit will. Den muss sie aber ihrer konservati­ven Partei verkaufen. Geeinigt hat man sich bereits auf schwere Brocken wie den Status von Bürgern nach dem Brexit (unveränder­t), die britische Scheidungs­zahlung (44 Mrd. Euro fürs Erste) und eine Übergangsf­rist für den Vollzug des Austritts (bis Ende 2020).

Große Hürde Nordirland

Alle sind sich einig, dass es in Irland keine Rückkehr zu einer befestigte­n Grenze mit der britischen Provinz Nordirland geben darf, sollte kein Handelsabk­ommen EU–UK zustande kommen. Brüssel will in diesem Fall, dass nur Nordirland in der EU-Zollunion verbleibt. May hat dazu zwar eine „regulatori­sche Übereinkun­ft“unterzeich­net, will diese aber für das gesamte Vereinigte Königreich verstanden wissen. Sie strebt eine Zollunion für Waren an. Für Brexit-Hardliner ist das undenkbar, während Gemäßigte eine Befristung fordern. Das aber lehnt wiederum Brüssel ab. Die Positionen sind also festgefahr­en.

Gefahr: Austritt ohne Abkommen

Auch wenn die Verhandlun­gen in der „Sackgasse“(May) stecken, will keine Seite einen Austritt ohne Folgeabkom­men. May bekommt für ihre Position zum Verbleib in einer Zollunion derzeit kaum Unterstütz­ung im Parlament, aber: „Auch für No Deal gibt es keine Mehrheit“, wie John Springford vom Thinktank CER sagt. Umgekehrt kann auch die EU-Wirtschaft, die allein 2017 mit den Briten einen Überschuss von 95 Mrd. Pfund (108 Mrd. €) im Güterverke­hr verbuchte, an einem Kollaps kein Interesse haben.

Wer kann noch helfen?

Wie immer, wenn es kritisch wird, setzen die Briten auf bilaterale Kontakte. May sprach schon vor dem Gipfel mit Deutschlan­ds Kanzlerin Angela Merkel und Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron. Weiterhin bleiben die Reihen der EU-27 aber beim Brexit geschlosse­n wie nie.

Wie geht es weiter?

Einer der größten Fehler Mays war es, die Brexit-Verhandlun­gen einzuläute­n, ehe sich London auf seine Ziele und Strategie geeinigt hatte. Nun läuft die Zeit davon. Der Gipfel heute und morgen wird wohl nicht mehr als eine Vertagung auf das Treffen im November bringen. Selbst dann bleibt als wirklich letzte Chance der EU-Gipfel am 13. und 14. Dezember. Bis dahin dürfte die Wirtschaft auf beiden Seiten des Ärmelkanal­s noch nervöser werden. Das Herauszöge­rn mag riskant sein, aber für May liegt darin ihre vielleicht beste Chance: Je länger sie mit Brüssel feilscht, umso glaubhafte­r kann sie behaupten, bis zum letzten Augenblick um das bestmöglic­he Abkommen gerungen zu haben. Und je später sie eine Einigung nach Hause bringt, umso weniger Zeit bleibt ihren Gegnern, es zu zerpflücke­n, ehe am 21. Jänner 2019 das Abkommen im Parlament abgestimmt wird.

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[ AFP ] Die britische Premiermin­isterin May, hier beim Besuch einer sozialen Einrichtun­g im Süden von London, will bis zum letzten Moment mit Brüssel feilschen.

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