Die Presse

Der türkische Gefangenen­basar

Diplomatie. Ankara hält mittlerwei­le sechs politische Gefangene aus Österreich fest. Immer wieder nutzte Präsident Erdo˘gan Häftlinge als Druckmitte­l gegen westliche Staaten, darunter Deutschlan­d und die USA.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R, CHRISTIAN ULTSCH UND THOMAS VIEREGGE

Wien/Istanbul. Das halbe Dutzend ist voll. Nun geriet auch ein 50-jähriger Spediteur aus Linz in die Fänge der türkischen Justiz. Damit werden nach „Presse“-Informatio­nen sechs Österreich­er aus politische­n Gründen in der Türkei festgehalt­en. Die Dunkelziff­er könnte noch größer sein: Ankara meldet nur jene Fälle, in die Österreich­er ohne türkischen Zweitpass involviert sind. Dem Linzer wird die Unterstütz­ung der verbotenen Arbeiterpa­rtei Kurdistans (PKK) vorgeworfe­n. Er kam am 2. Oktober in Gewahrsam, gegen Kaution frei – und wurde am Donnerstag erneut festgenomm­en. Berichten zufolge belastet den gebürtigen Kurden ein Bild, das ihn mit PKK-Mitglieder­n zeigen soll.

Seit der Nacht des gescheiter­ten Putschvers­uchs im Juli 2016 geht die türkische Führung mit eiserner Hand gegen Kritiker vor. Festnahmew­ellen schwappen über das Land. Die Türkei sucht Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, den Präsident Recep Tayyip Erdogan˘ hinter dem Umsturzver­such vermutet. Auch in Österreich macht die Türkei Druck. Nach Kenntnis der „Presse“legt die Türkei Listen mit angebliche­n Gülenisten in Österreich vor. Immer wieder werden auch Österreich­er in der Türkei festgenomm­en und freigesetz­t.

Die Öffentlich­keit erfährt davon oft nichts. Anders als im Fall von Max Zirngast. 38 Tage ist der Steirer in Polizeigew­alt. Die türkis-blaue Regierung forderte Ankara auf, die Vorwürfe zu konkretisi­eren oder Zirngast freizulass­en. Beides ist nicht passiert: Der linke Aktivist und Publizist sitzt weiter im Gefängnis in Sincar¸ vor den Toren Ankaras. Die Staatsanwa­ltschaft nennt keine Details zu dem Fall – Geheimsach­e. Sie bestätigt nur Ermittlung­en wegen „Mitgliedsc­haft in einer staatsfein­dlichen Vereinigun­g“.

Erdogan˘ weiß um den Fall Zirngast. Er sprach ihn nach „Presse“-Informatio­nen im Gespräch mit Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen am Rande der UN-Versammlun­g in New York an. Mit am Tisch saßen die Außenminis­terin Karin Kneissl und Mevlüt C¸avus¸og˘lu, die einen guten Draht zueinander haben.

Außenamt hält den Ball flach

Wien und Ankara nähern sich wieder an. Das belegt die Forschungs­stätte Ephesos, an der österreich­ische Archäologe­n wieder graben. Auch in der Nato fuhr das große Mitgliedsl­and Türkei seine Schikanen gegen das neutrale Partnerlan­d Österreich zurück. Kneissl legt Wert auf die verbessert­en Beziehunge­n. Auch nach den jüngsten Festnahmen hielt das Außenminis­terium den Ball flach. Den Fall des Linzers und die Festnahme einer kurdischen Welserin deckten die „Oberösterr­eichischen Nachrichte­n“auf. Zu den restlichen Fällen schweigt das Außenminis­terium. Offiziell aus Datenschut­zgründen.

Erdogan˘ betreibt mit seinen ausländisc­hen Gefangenen zuweilen „Geiseldipl­o- matie“. Sollen auch die Zellen mit inhaftiert­en Österreich­ern als Druckmitte­l gegen Wien eingesetzt werden? Das ist unklar. Jeder Fall ist anders.

Jüngstes Beispiel für Erdogans˘ schwunghaf­ten Gefangenen­basar war der US-Pastor Andrew Brunson (50), der nach zweijährig­er Haft erst am Freitag freikam. Ein Gericht in Izmir hatte ihn nach einem bizarren Prozess wegen angebliche­r Unterstütz­ung der PKK und der Gülen-Bewegung zu einer dreijährig­en Haftstrafe verurteilt, zugleich aber den Hausarrest und die Ausreisesp­erre aufgehoben. Schon am Samstag empfing US-Präsident Donald Trump den evangelika­len Geistliche­n im Weißen Haus.

Trump sprach von einer schlagarti­gen Verbesseru­ng der bilaterale­n Beziehunge­n zwischen Washington und Ankara. Der Präsident hatte im Fall Brunson – einer „patriotisc­hen Geisel“– massiven Druck ausgeübt, im August Strafzölle angehoben und Sanktionen verschärft. Die bilaterale Krise entzündete sich an der Weigerung der USA, den Prediger Gülen aus seinem US-Exil auszuliefe­rn, und an der US-Militärhil­fe für die kurdischen YPG-Milizen in Nordsyrien.

Deutschlan­d exerzierte vor, was es unter Gefangenen­diplomatie versteht. Im Februar erreichte Sigmar Gabriel, damals Außenminis­ter, die Freilassun­g des „Welt“-Korrespond­enten Deniz Yücel. Zuvor hatte Ex-Kanzler Gerhard Schröder mit einer Geheimmiss­ion die Ausreise des Menschenre­chtlers Peter Steudtner erwirkt.

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