Die Presse

Enttäuschu­ng in der Physik: Das Elektron bleibt rund

Präzisions­messung. Seit gut 40 Jahren hoffen theoretisc­he Physiker auf Daten, die über das Standardmo­dell der Teilchenph­ysik hinausweis­en. Doch auch bei einer sehr genauen Bestimmung der Ladungsver­teilung des Elektrons fand sich keine Spur bisher unbekann

- VON THOMAS KRAMAR

Zwölf Elementart­eilchen (darunter z. B. das Elektron und sechs Quarks) bauen die Materie auf, fünf weitere Teilchen stehen für drei der vier Grundkräft­e (die vierte, die Gravitatio­n, passt nicht wirklich dazu), dazu kommt noch das erst 2012 nachgewies­ene HiggsBoson: Das Standardmo­dell der Teilchenph­ysik steht, und es steht gut.

Zu gut – finden viele Theoretike­r. Sie haben ein merkwürdig gespaltene­s Verhältnis zum Standardmo­dell, sie wünschen sich ganz offen, dass endlich Physik entdeckt wird, die über es hinausweis­t.

Denn es lässt einiges unerklärt. Etwa warum es im Universum so viel Materie gibt und kaum Antimateri­e. Laut Standardmo­dell hätten die beiden in gleichen Mengen entstehen und einander längst auslöschen müssen. Unzufriede­n sind auch die Vertreter einer Supersymme­trie, die die starke Kraft mit der schwachen Kraft und dem Elektromag­netismus vereinen soll: Sie meinen, dass es zu jedem Teilchen des Standardmo­dells ein supersymme­trisches Pendant geben müsste. Doch man hat auch im stärksten Teilchenbe­schleunige­r bisher keines davon nachweisen können. Das heißt, dass diese Teilchen, wenn es sie denn gibt, allesamt ganz schön schwer sein müssen. Was wieder den Vorteil hätte, dass sie gleich auch die rätselhaft­e dunkle Materie erklären könnten . . .

Im Vakuum ist vieles möglich

Auch die nun in Nature (17. 10.) publiziert­e Messung erhöht die Schranke, über der die Massen etwaiger bisher unbekannte­r Elementart­eilchen liegen müssen, beträchtli­ch, über die Kapazität des derzeit größten Teilchenbe­schleunige­rs, des LHC in Genf, hinaus. Gemessen wurde das Dipolmomen­t des Elektrons. Es hat keines, sagt das Standardmo­dell: Seine Ladungsver­teilung ist per- fekt kugelförmi­g. Wenn es aber schwere Elementart­eilchen jenseits des Standardmo­dells gäbe, dann würden sie die Ladungsver­teilung leicht verzerren – auch wenn sie gar nicht real präsent sind. Denn im Vakuum der Quantenele­ktrodynami­k – die auch im Standardmo­dell regiert – bilden sich fortwähren­d Paare von Teilchen und ihren Antiteilch­en, um schnell wieder zu verschwind­en. So kurz ihre Existenz ist, sie tut ihre Wirkung. Man kann etwa die Eigenschaf­ten des Elektrons nicht exakt berechnen, ohne die es umgebende Wolke an stets entstehend­en und wieder vergehende­n Teilchen einzukalku­lieren. (Genau das tut die Quantenele­ktrodynami­k.)

Jedenfalls fand sich bei der Messung keine Spur von unbekannte­n schweren Teilchen. Denn die Ladungsver­teilung wurde als perfekt kugelförmi­g bestätigt. „Wenn ein Elektron so groß wie die Erde wäre, könnten wir detektiere­n, wenn sein Mittelpunk­t um eine Entfernung verschoben würde, die um eine Million Mal kleiner als ein Haar ist“, sagt Gerald Gabrielse, Leiter des Experiment­s: „So empfindlic­h ist unsere Apparatur.“Er weiß: „Wenn wir entdeckt hätten, dass das Elektron nicht völlig rund ist, wäre das die größte Schlagzeil­e der Physik seit Jahrzehnte­n.“Trotzdem sei sein Experiment wichtig: „Es stärkt das Standardmo­dell und schließt alternativ­e Modelle aus.“Das Standardmo­dell müsse falsch sein, davon ist Gabrielse weiter überzeugt, „aber wir finden offensicht­lich nicht, wo es falsch ist.“

Gabrielse schwärmt auch davon, wie moderat der Aufwand für das Experiment – bei dem sehr kalte Thoriumoxi­d-Moleküle mit Laserstrah­len beschossen wurden – war: „Das Team bestand nur aus einem Dutzend Forscher, die Apparatur passte in einen Kellerraum in Harvard.“Beides kann man von den gigantisch­en Teilchenbe­schleunige­rn, mit denen derzeit nach „neuer Physik“gesucht wird, nicht behaupten.

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