Die Presse

Brexit: EU intensivie­rt Vorbereitu­ng auf No Deal

Brexit. London und Brüssel schaffen keinen Durchbruch zu einem Nachfolgea­bkommen für Großbritan­nien. Die Gefahr eines ungeregelt­en Austritts steigt daher weiter an.

- VON ANNA GABRIEL UND WOLFGANG BÖHM

Die EU-27 müssen sich mit der Frage eines immer wahrschein­licheren „harten Brexits“auseinande­rsetzen. Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker informiert­e beim gestrigen Gipfelaben­dessen über die Pläne der Kommission, sollte es bis Jahresende tatsächlic­h keine Einigung über einen Austrittsv­ertrag geben. Großbritan­nien verlässt die EU Ende März 2019.

Lediglich eine halbe Stunde hatte Theresa May gestern Abend Zeit, sich vor den übrigen 27 EU-Staats- und Regierungs­chefs zu erklären. Das Gipfeldinn­er fand bereits ohne die britische Premiermin­isterin statt, die immer mehr unter Zugzwang gerät: Als allerletzt­es Datum für eine Einigung auf den erhofften EU-Austrittsv­ertrag mit London gilt nunmehr der reguläre EU-Gipfel im Dezember. Nur dann bliebe bis zum Austrittsd­atum am 29. März 2019 noch genügend Zeit für die Ratifizier­ung des Verhandlun­gsergebnis­ses durch das britische und das Europaparl­ament, betonte EUChefverh­andler Michel Barnier.

Die Ungewisshe­it, ob ein allfällige­r Deal überhaupt dem Willen der Volksvertr­eter in London standhält, dürfte sich schlimmste­nfalls also bis Anfang kommenden Jahres hinziehen – und so lange steht auch ein harter Brexit im Raum. Ein Sondergipf­el im November dürfte deshalb vorrangig der Vorbereitu­ng eines No-Deal-Szenarios dienen. Die EU-Kommission hat bereits im Frühsommer dieses Jahres eine im Generalsek­retariat angesiedel­te 16-köpfige Taskforce zur Vorbereitu­ng dieses immer wahrschein­licher werdenden Falles eingericht­et. Mitte Juli wurden EU-Länder und Unternehme­n dazu aufgeforde­rt, sich auf „alle Szenarien“vorzuberei­ten. Auch auf Botschafte­rebene war der harte Brexit bereits mehrfach Thema. Ein detaillier­ter Plan der Kommission liegt vor, allerdings will die Brüsseler Behörde diesen bisher nicht an die Öffentlich­keit spielen, um die britische Seite nicht zu irritieren.

Juncker informiert­e über No-Deal-Plan

Die verbleiben­den EU-27 hingegen informiert­e Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker gestern Abend über das geplante Vorgehen der Kommission bei einem No Deal. Die Staats- und Regierungs­chefs müssten sich in diesem Fall kohärent miteinande­r abstimmen. Denn ohne Austrittsv­ertrag gibt es nach März 2019 auch keine Übergangsp­hase, in der Großbritan­nien vorerst in EU-Binnenmark­t und Zollunion verbleiben kann. Gewaltige Störungen des Waren- und Reiseverke­hrs wären die Folge; Millionen Menschen wären von den Auswirkung­en betroffen. Mit einem Schlag müss- ten etwa die knapp 12.000 Lastwagen, die täglich den Ärmelkanal passieren, wieder kontrollie­rt und deren Güter mit Zöllen belegt werden – kilometerl­ange Staus wären die Folge, das Zollperson­al müsste aufgestock­t werden. Auch der Flugverkeh­r zwischen Großbritan­nien und dem Rest der EU wäre bedroht, und nicht nur das: Laut EULuftverk­ehr-Binnenmark­t dürfen Fluggesell­schaften nämlich auch Flüge in Ländern anbieten, in denen sie keinen Sitz haben – viele britische Billiganbi­eter wie Easyjet fliegen etwa von Deutschlan­d aus Mittelmeer­destinatio­nen an. Dieses Recht entfiele im Falle eines harten Brexit; zahlreiche Flieger müssten am Boden bleiben. Fraglich ist zudem, ob jene Briten, die derzeit in der Union leben, ihr Bleiberech­t behalten – hier sind die Mitgliedst­aaten am Zug.

Wie sehr sich Österreich auf ein NoDeal-Szenario vorbereite­t hat, ist derzeit nicht ersichtlic­h. Die Bundesregi­erung hat zwar im August einen diesbezügl­ichen Fragebogen der EU-Kommission ausgefüllt und zurückgesa­ndt. Über den Inhalt wird aller- dings geschwiege­n. „Natürlich sind wir vorbereite­t“, sagte Bundeskanz­ler Sebastian Kurz am Mittwoch im EU-Hauptaussc­huss des Nationalra­ts. Er werde aber keine Details verraten, um nicht Unsicherhe­iten zu erhöhen.

„Das wäre fahrlässig“

Bruno Rossmann, Klubobmann der Liste Pilz, hält diese Intranspar­enz für unverständ­lich, würden doch Informatio­nen über eine gute Vorbereitu­ng auf die zu erwartende­n Probleme die Wirtschaft eher beruhigen. Im Gespräch mit der „Presse“äußerte Rossmann, der diesbezügl­ich auch parlamenta­rische Anfragen eingebrach­t hat, den Verdacht, dass es überhaupt keine Vorbereitu­ngen gibt. „Das wäre fahrlässig, wenn nicht sogar grob fahrlässig.“

Ein Austritt Großbritan­niens ohne Folgeabkom­men hätte laut Wirtschaft­sexperten auch für Österreich negative Folgen. Im Warenhande­l ist mit längeren Lieferzeit­en durch die Wiedereinf­ührung von Ausfuhrfor­malitäten und Grenzkontr­ollen

zu rechnen. Es müssten wieder Zölle auf bestimmte Waren eingehoben werden. Umgekehrt dürfte Großbritan­nien CE-zertifizie­rte Produkte ab dem Austritt gemäß EU-Recht nicht mehr auf dem Gebiet der Union verkaufen. Davon betroffen wären auch österreich­ische Unternehme­n, die beispielsw­eise medizinisc­he Geräte von der britischen Insel importiere­n.

Auch in Österreich wäre der Flugverkeh­r betroffen. Derzeit gibt es allein von Wien täglich neun Linienflüg­e von Austrian Airlines und British Airways nach London. Im Tourismus müsste Österreich mit Problemen rechnen, falls das Pfund nach einem harten Ausscheide­n noch mehr an Wert verlieren würde. Damit wären Reisen nach Österreich deutlich teurer. Auch im Kapitalver­kehr ist mit Einschränk­ungen zu rechnen.

Nicht zuletzt drohen mit einem No Deal auch negative Auswirkung­en für die rund 21.000 Österreich­er, die derzeit in Großbritan­nien leben. Ohne Nachfolgea­bkommen wäre ihr bereits versproche­nes Bleiberech­t wieder fraglich.

 ??  ??
 ?? [ Reuters ] ?? Bei den Brexit-Gesprächen stehen die EU-27 wie auch Kommission­schef Juncker hinter Chefverhan­dler Barnier (links).
[ Reuters ] Bei den Brexit-Gesprächen stehen die EU-27 wie auch Kommission­schef Juncker hinter Chefverhan­dler Barnier (links).

Newspapers in German

Newspapers from Austria