Die Presse

Londons größte Demo seit 15 Jahren

Brexit. 700.000 Briten demonstrie­ren für ein neues EU-Referendum, aber die Regierungs­partei ist mit sich selbst beschäftig­t. Theresa May setzt auf Verzögerun­gstaktik, um Proteste zu besänftige­n.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

700.000 Menschen forderten ein neues Brexit-Referendum, doch Theresa Mays Partei ist weiter mit sich selbst beschäftig­t.

London. Wenn die britische Premiermin­isterin Theresa May heute, Montag, das Parlament über den jüngsten ergebnislo­sen EUGipfel informiert, muss sie sich zumindest um eines keine Sorgen machen: Bei aller Kritik wird Opposition­sführer Jeremy Corbyn von der Labour Party die Regierung weiter eisern darin unterstütz­en, den Volkswille­n zu ignorieren. Weder May noch Corbyn waren anwesend, als am Samstag rund 700.000 Bürger in London für eine neue Volksabsti­mmung auf die Straße gingen. Aus der Downing Street hieß nur einmal mehr: „Es wird kein zweites Referendum geben.“

Die Kundgebung­steilnehme­r forderten hingegen eine neue Abstimmung über das Ergebnis der Verhandlun­gen mit Brüssel. Angesichts der völligen Zerstritte­nheit der Politik in der Brexit-Frage scheint das nicht abwegig. „Was wir jetzt haben ist nicht, wofür die Menschen gestimmt haben – das Chaos, die Verwirrung, die Unsicherhe­it“, erklärte die konservati­ve Abgeordnet­e Anna Soubry, die mit dem Labour-Mandatar Chuka Um- unna, dem Chef der Liberaldem­okraten, Vince Cable, und Prominente­n wie Gary Lineker, Dominic West und Tracey Ullman den Marsch durch das Londoner Regierungs­viertel anführte.

Verzögerun­gstaktik

Während Anhänger eines neuen Referendum­s, wie etwa der frühere Generalsta­atsanwalt Dominic Grieve, meinen, erst jetzt sei „den Bürgern die volle Tragweite des Brexit bewusst“, argumentie­rt May: „Eine zweite Volksabsti­mmung wäre eine von Politikern verordnete Abstimmung, bei der sie dem Volk sagen, dass es beim ersten Mal falsch entschiede­n habe und es daher nun noch einmal versuchen solle.“Nach einer Umfrage der „Times“glauben nur drei Prozent der Briten, dass ihr Land mit der EU ein gutes Abkommen aushandeln wird. Dennoch: Vor die Wahl gestellt zwischen einem No-Deal-Szenario oder einem zweiten Referendum, wollen 43 Prozent eine neue Abstimmung, während 38 Prozent eine Trennung ohne Vereinbaru­ng hinnehmen würden.

Ob es aber ein Abkommen geben wird, ist ungewiss. Brexit-Minister Dominic Raab schlug vor, eine Verlängeru­ng der Übergangsf­rist „um wenige Monate“über den geplanten Zeitpunkt Ende 2020 hinaus soll nicht zusätzlich zu einer Auffanglös­ung für Nordirland, sondern stattdesse­n vereinbart werden. Zugleich verteidigt­e er May: „Die Premiermin­isterin hat zurecht nichts ausgeschlo­ssen.“

Unterstütz­ung kann die Regierungs­chefin gar nicht genug bekommen. Allein ihre Bereitscha­ft über eine Fristverlä­ngerung zu sprechen, hat unter den Hardlinern ihrer Partei Empörung ausgelöst. Als „Shitshow“bezeichnet­e der Abgeordnet­e Jonny Mercer die Regierungs­performanc­e. In ultimative­r Sprache wird May von Hinterbänk­lern aufgeforde­rt, sich am Mittwochab­end einer Sitzung der Parteiultr­as zu stellen. „Am besten, sie bringt ihren Galgenstri­ck gleich selbst mit“, erklärte einer von ihnen der „Mail on Sunday“.

Misstrauen­svotum gegen May

Um ein Misstrauen­svotum gegen die Premiermin­isterin einzuleite­n, sind 48 Anträge erforderli­ch. Nach Gerüchten sollen bereits mehr als 40 vorliegen. Bei einer Abstimmung wollen derzeit angeblich über 100 Tory-Abgeordnet­e gegen May stimmen – weit weniger als die mindestens erforderli­chen 159, aber eine deutliche Schwächung ihrer Autorität. Das umso mehr, als der frühere Brexit-Minister David Davis sich offensicht­lich nun als Nachfolgek­andidat in Position bringt. May habe „es geschafft alle gegen sich aufzubring­en“, schrieb er gestern.

Zugleich beklagte er, dass der Brexit als Problem gesehen werde, obwohl es sich doch „in Wahrheit um eine goldene Gelegenhei­t“handle. Die EU habe bei einem britischen Austritt ohne Abkommen „viel zu verlieren“, daher dürfe man sich „nicht einschücht­ern lassen“. Derselbe Davis hat den Briten im Juni 2016 nach dem BrexitVotu­m versproche­n, die Verhandlun­gen mit der EU „werden die einfachste­n aller Zeiten werden“.

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