Der russische Aufschwung, den keiner wollte
Russland. Die verschärften Sanktionen des Westens haben in Russland eine anomale Situation geschaffen. Paradoxerweise profitiert das Land. Dahinter steht ein Spiel der Russen mit billigem Geld und teurem Öl. Das könnte gefährlich werden.
Was in den vergangenen Tagen an Wirtschaftszahlen in Russland bekannt wurde, hat so manchen Beobachter verblüfft. Und es kann kaum nach dem Geschmack jener sein, die gehofft hatten, dass sie mit den diversen Sanktionen einen schnellen und ausschließlich negativen ökonomischen Effekt hervorrufen würden. Zumindest kurzfristig scheint vielmehr das Gegenteil der Fall zu sein: Russlands Wirtschaft und Staatshaushalt befinden sich in einem besseren Zustand als zumindest gemeinhin kolportiert.
Zutage trat dies etwa zuletzt am Freitag vergangener Woche, als das Finanzministerium die Korrekturen am Staatsbudget 2018 bekannt gab. Diese nämlich weisen auf, dass der Budgetüberschuss im Gesamtjahr 4,4 Mal höher ausfallen werde als in der bisherigen Budgetfassung. Konkret soll er von 481,7 Mrd. Rubel auf 2,1 Billionen Rubel (28 Mrd. Euro) steigen. Während nämlich die Ausgaben kaum erhöht werden, sind die Einnahmen deutlich gestiegen. Ausgehend von der aktualisierten BIP-Prognose würde der Überschuss ganze 2,1 Prozent des BIPs betragen. Das wäre der erste seit 2011 überhaupt.
Von ungefähr kommt das freilich nicht. Ein wesentlicher Grund liegt darin, dass der zwischen 2014 und 2016 dramatisch abgesackte Ölpreis seit Jahresbeginn um über 16 Prozent – und seit Mitte des Vorjahres gar um 75 Prozent – zugelegt hat. Für Russland ein Segen. Laut Experten der Moskauer Higher School of Economics ist der höhere Ölpreis im ersten Halbjahr für die Hälfte des Nettogewinnzuwachses der russischen Realwirtschaft verantwortlich. Bei den Ölkonzernen ist der Gewinn überhaupt explodiert. Das Öl ist nur ein Grund für die Mehreinnahmen. Der zweite liegt in der neuen Dynamik des Rubels. Entgegen früheren Gewohnheiten entwickelt sich die russische Währung nicht mehr direkt proportional zum gestiegenen Ölpreis. Stattdessen kamen zuletzt zwei andere Momente zum Tragen: zum einen die Aufwertung des Dollars, die allen Schwellenländerwährungen zusetzte. Zum anderen die Verschärfung der US-Sanktionen, die den Rubel nach unten drückten. Vor allem als die USA Anfang April 2018 die bislang wuchtigsten Sanktionen verhängte, sackte der Rubel ab. Seit sie im August nachlegte und weitere Sanktionen für November androhte, abermals.
Womit die Sanktionsverantwortlichen vielleicht nicht gerechnet haben: Für Exportfirmen und das Staatsbudget ist die Situation doppelt vorteilhaft. Nicht nur die Menge an eingenommenen Petrodollars steigt, sie werden paradoxerweise zudem durch den Umtausch in billige Rubel im Inland mehr wert, während die heimischen Ausgaben in Rubel gleich bleiben. Damit nicht genug, verteuert der billige Rubel die importierten Produkte zugunsten der einheimischen, sodass die Einfuhren zurückgehen, während die Exporteinnahmen steigen.
Der Effekt wurde augenscheinlich, als die russische Zentralbank die Außenhandelsstatistik vorlegte. Obwohl der Import im zweiten Halbjahr traditionell anzieht, ging er im dritten Quartal leicht, aber eben anomal zurück. Obwohl die Wirtschaft wächst. Die Folge: Russland hat im dritten Quartal einen Leistungsbilanzüberschuss von 26,4 Mrd. Dollar erzielt. So viel wie seit dem Boomjahr 2008 nicht mehr. Das entspricht etwa 6,5 Prozent des BIPs, ein absoluter Rekord. Die Zentralbank erwartet für das Gesamtjahr einen Überschuss von 98 Mrd. Dollar.
Ob für diese Entwicklung allein die Rubelabwertung seit April verantwortlich ist, ist unter Experten umstritten. Genauso könnte zum Tragen kommen, dass der Import von Investitionsgütern sinkt. Und dass generell die Konsumnachfrage rückläufig ist.
Die Realeinkommen sinken seit vier Jahren – mit dem Effekt, dass die Verbraucherkredite in den ersten acht Monaten 2018 gegenüber dem Vergleichszeitraum 2017 um 27,7 Prozent hochgeschnellt sind. Zuletzt stiegen die Privatkonkurse. Um den Trend zu drehen, müsste die Wirtschaft schneller wachsen als die 2018 erwarteten 1,8 Prozent.
Aber Russland geht lieber auf Nummer sicher. Und statt sich um eine Stimulierung des Wachstums zu kümmern, nützt es die Kombination von hohem Ölpreis und billigem Rubel, um Reserven aufzubauen. Der Kreml hat nämlich eine Lektion gelernt: Es kann immer noch schlimmer kommen. Wie sagte Premierminister Dmitri Medwedew im September? „Der Beginn des neuen Sechsjahreszyklus wird nicht einfach.“