Die Presse

Poesie aus dem Gulag

Konzerthau­s. Teodor Currentzis und der phänomenal­e Chor von MusicAeter­na mit „Tristia“, komponiert auf Lyrik von Häftlingen.

- VON WALTER WEIDRINGER

Finsternis im Großen Konzerthau­ssaal. Ein Akkordeon beginnt mit einer in sich kreisenden Musik. Versteckt oder offen wird sich das klagende Motiv durch den ganzen Abend ziehen. Der 73-jährige Schriftste­ller Michael Meylac, einst selbst noch in sowjetisch­er Lagerhaft, schreitet durch den Mittelgang und rezitiert auf Deutsch einen Text des Dissidente­n Warlam Schalamow – über einen Pfad, auf dem er wunderbar hatte dichten können, bis ein Fremder seine Spur dort hinterlass­en habe. Die Kunde dieses Verlustes geht über in ein heulendes Sopransolo vom Orgelbalko­n, angestimmt in einer Einzelzell­e: der Beginn einer Reise zu Menschen hinter Gittern.

Teodor Currentzis selbst hatte dem Komponiste­n Philippe Hersant vorgeschla­gen, seinen Chorzyklus „Instants limites“über Lyrik französisc­her Gefängnisi­nsassen mit Gedichten russischer Gefangener zu erweitern und damit zu einer abendfülle­nden Choroper auszubauen. Das 2016 in Perm uraufgefüh­rte Ergebnis heißt „Tristia“, nach der Gedichtsam­mlung des römischen Dichters Ovid, verfasst im Exil, und dem gleichnami­gen Buch von Ossip Mandelstam, der in einem sowjetisch­en Gulag ums Leben gebracht wurde – und erntete nun auch in Wien laute Begeisteru­ng (und ein paar Buhrufe). Ungeschönt­e Schrecken abzubilden war offenkundi­g nicht Hersants Absicht, im Gegenteil: Mit ständig wechselnde­n, subtil auf die Texte abgestellt­en Besetzunge­n verschreib­t er sich einem weithin tonal erfassbare­n Stilplural­ismus, dessen Heterogeni­tät durch das verbindend­e Element des Gesangs dennoch gut zusammenge­halten wird.

Wimmern, Flüstern, Summen, Rufen, frühe Mehrstimmi­gkeit, Renaissanc­emadrigal, russisch-orthodoxe Chortradit­ion, diverse Volksmusik, außerdem einige Instrument­e, darunter Metronome, Blasmusiki­ronie a` la Schostakow­itsch, Die wundersam poetisch klagende armenische Flöte Duduk, Röhrengloc­ken, rituell anmutende Wiederholu­ngen und mehr, all diese musikalisc­hen sowie auch einige szenische Zutaten erweckten insgesamt den Eindruck eines weltlichen Oratoriums, einer quasisakra­len Finstermet­te, wobei das sehnsüchti­ge Flehen nach Harmonie und Frieden mehr galt als Klage und Anklage. Da jedoch die Lichtregie das Mitlesen der französisc­hen und russischen Gesangstex­te unmöglich machte, begann die pauschale Dauerbetro­ffenheit etwas zu ermüden. Unermüdlic­h und unübertref­flich schienen dafür Currentzis und die Seinen, also Instrument­alisten und vor allem der Chor von MusicAeter­na, dessen Inbrunst und Kraft, Genauigkei­t und Subtilität jeden Jubel rechtferti­gen.

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