Wozu noch Nationalfeiertag? Wir sind doch Europäer!
Woran liegt es, dass die Nationen einfach nicht absterben wollen? Die Antwort steht in einem Vortrag, der vor 136 Jahren an der Sorbonne gehalten wurde.
Manche Debatten ziehen sich über viele Jahre, bevor sie allmählich entschlafen. Lang wurde darüber gestritten, ob die Österreicher eine eigene Nation seien oder – ähnlich der DDR – ein staatlich separierter Teil der deutschen Nation. Die „nationale Frage“war bis in die 1980er-Jahre eine offene Baustelle. Zuletzt erhitzten sich daran die Gemüter 1988, als Jörg Haider in einem Interview sagte, die österreichische Nation sei eine „ideologische Missgeburt“.
Viele Wählerstimmen konnte man mit einer solchen Meinung damals nicht mehr gewinnen, denn drei Viertel der Österreicher hatten sich bereits mit der österreichischen Nation abgefunden. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war sie „work in progress“gewesen. Bei einer Umfrage, die 1956 durchgeführt wurde, hielten sich Gegner und Befürworter mit je 49 Prozent die Waage, was dem seinerzeitigen Kräfteverhältnis der Parteien entsprach. Bei den Nationalratswahlen dieses Jahres stimmten 46 Prozent für die ÖVP und vier Prozent für die KPÖ. Beide Parteien bekannten sich, anders als SPÖ und FPÖ, zur österreichischen Nation.
Erst in den 1970er-Jahren ging Bruno Kreisky mit der SPÖ brummelnd ins österreichische Lager über, wodurch die Zustimmung auf 64 Prozent stieg. In den 1990ern verschied die großdeutsche Idee. Ausgerechnet Haider schaffte für die FPÖ, was Kreisky für die SPÖ gelungen war – er verwandelte sie in eine Österreich-Partei. 2008, als die Umfrage zum letzten Mal durchgeführt wurde, stimmten 82 Prozent für die österreichische Nation. Seither ist die Baustelle geschlossen.
Neuerdings wird die Angst vor einem Comeback des alten Nationalismus geschürt. Keiner spricht von einem österreichischen Nationalismus, man will sich schließlich nicht lächerlich machen. Aber ein abstrakter „Nationalismus“wird Österreich gern unterstellt, wie zuletzt in der unsäglichen, Sebastian Kurz dämonisierenden „Newsweek“-Coverstory, die alles andere als ein „Jubelartikel“war.
In Wirklichkeit droht nicht der Rückfall in den alten Nationalismus. Umstritten ist die Subsidiarität, also, ob Aufgaben, die auf nationaler Ebene bewältigt werden können, an die EU delegiert werden sollen. Immer mehr Nationalstaaten sind da anderer Meinung als die bürokratischen Zentralisten. Das nationalistische Gespenst wird aus dem Schrank geholt, um die Legitimität nationaler Anliegen zu bestreiten.
Von Nationalismus kann aber nur gesprochen werden, wenn die Nation absolut gesetzt und politisch instrumentalisiert wird. Das ist in Österreich heute ganz sicherlich nicht der Fall. Aber was ist das eigentlich, eine Nation? Der französische Religionswissenschaftler Ernest Renan beantwortete diese Frage 1882 in einem Vortrag an der Sorbonne unter dem Titel „Was ist eine Nation?“so meisterlich, dass sich spätere Nationalismustheorien, von Max Weber und Otto Bauer bis zu Ernest Gellner und Benedict Anderson, wie bloße Auffächerungen seiner Argumente ausnehmen.
Eine Nation, sagte Renan, sei ein geistiges Prinzip, eine dauerhafte Solidargemeinschaft, die sich anhand objektiver Kriterien allein nicht definieren lasse. Ihr Dasein sei „ein tägliches Plebiszit, wie das Dasein des einzelnen eine ständige Behauptung seines Lebens ist.“Das Prinzip der Ethnizität legitimiere sie nicht, die besten Nationen seien jene, „bei denen das Blut am stärksten gemischt ist“. Wer zu viel Wert auf die Sprache lege, begrenze sich selbst in einer „für national gehaltenen Kultur“. Es komme darauf an, woran sich die Menschen, die eine Nation bilden, gemeinsam erinnern und was sie gemeinsam vergessen haben, auf ihren „Wunsch, zusammenzuleben“und „dieses Erbe hochzuhalten“. Ohne den gemeinsamen Willen kann eine Nation nicht bestehen.
Morgen ist Nationalfeiertag. Nehmen Sie sich die Zeit und lesen Sie Renan. Der etwa 30 Seiten lange Text ist im Internet frei zugänglich.