„Niemand rührt an das Wagner-Tabu“
Musik. Dirigent Zubin Mehta und Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka unterhalten sich mit der „Presse“: über einen heimlich Konzerte besuchenden Staatschef, die „blaue Donau“im US-Gefängnis und den Wert von Kultur. Nur – welcher?
Dirigent Zubin Mehta und Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka im Gespräch mit der „Presse“.
Plötzlich prasselt es auf Italienisch, Riccardo Muti steht da, beglückt, seinen Kollegen zu sehen. Das ist Wien, Alltag im Hotel Imperial. Gleich wird auch „Daniel“aus Berlin kommen, Barenboim nämlich, um seinen Freund Zubin abzuholen. Einstweilen aber unterhalten sich Zubin Mehta, mit seinem Israel Philharmonic Orchestra nach längerem wieder in Wien, und der Ex-Dirigierstudent und jetzige ÖVP-Politiker Wolfgang Sobotka mit der „Presse“. . .
Von dessen Büro war die Einladung gekommen – und die Idee, über den Wert von Kunst und Kultur für eine offene Gesellschaft zu sprechen. Welche Kunst, Kultur, Offenheit, fragte die „Presse“– und werde das Gespräch mit einem Vertreter der ÖVPFPÖ-Koalition die israelischen Musiker nicht irritieren? Der große Dirigent erzählte aber lieber aufschlussreiche Anekdoten, als über Politik zu reden. Und der musikalisch hochgebildete Politiker plädierte für kulturelle Offenheit – vor allem in Form von klassischer Musik für alle.
Die Presse: Herr Mehta, nachdem Sie aus gesundheitlichen Gründen mehrere Konzerte in Wien absagen mussten, haben Sie zum ersten Mal wieder hier dirigiert. Wie geht es Ihnen? Und können Sie nach Ihren Schulterproblemen den Taktstock ohne Schwierigkeiten führen? Sie haben nicht mit links dirigiert . . . Zubin Mehta: Nein, das kann ich nicht gut. Nur als es ganz schlimm war, habe ich viel mit links dirigiert, fast die ganze „Turandot“. Dann hat man auch noch einen Krebs in meiner Niere gefunden. Als ich dem Chef der Nuklearmedizin am UCLA-Spital in Los Angeles, Doktor Czernin, einem Wiener, erzählt habe, dass ich in Wien die Krönungsmesse dirigiere, hat er daraus zu singen angefangen und erzählt, er war Sängerknabe!
Sie treffen einander hier zum ersten Mal? Wolfgang Sobotka: Ja, aber ich bewundere den Maestro, schon seit ich in Linz Dirigieren studiert habe. Mehta: In Linz habe ich angefangen! Am Landestheater hatte ich 1959 mein erstes Berufsdirigat.
Cello und Dirigieren haben Sie neben Ihrem Geschichtsstudium studiert, Herr Sobotka – erfolgreich? Sobotka: Ich habe ein Jahr versucht, mich als Berufsdirigent durchzusetzen, war damals viel in Brünn und Bratislava. Das war nicht sehr erfolgreich, ich hatte eine Familie mit drei Kindern und vom Dirigieren konnten wir nicht wirklich leben. Deshalb bin ich dann meiner zweiten Leidenschaft, dem Lehramt, nachgegangen. Ich musiziere aber seit 50 Jahren im gleichen Laienorchester, dem Kammerorchester meiner Heimatstadt Waidhofen an der Ybbs – früher als Cellist, jetzt als Dirigent.
Herr Mehta, kennen Sie viele musizierende Politiker? Mehta: Euer früherer Präsident Thomas Klestil ging immer in Konzerte! Er war früher in Los Angeles Konsul. Frau Merkel kommt in Berlin auch oft, ihr Mann fast jedes Mal. Manche israelische Politiker waren sehr musikfreundlich. Schimon Peres kam immer in unsere Konzerte. Ariel Sharon hat nie Freikarten akzeptiert, er hat sie immer gekauft. Als er dann Premier geworden ist, wurde es wegen der Sicherheit zu schwierig. Aber manchmal ist er heimlich gekommen und hat sich ganz oben hingesetzt. Sobotka: Das Israel Philharmonic Orchestra ist ja für die Identität und das Selbstverständnis des Staates Israel eine ganz wichtige Institution, nicht wahr? Mehta: Vom Staat kriegen wir sehr wenig Geld. Wir haben jetzt eine Kulturministerin, die war noch kein einziges Mal im Konzert. Auch der Premier hat kein Interesse.
Herr Sobotka, Ihr Büro regte an, über die Bedeutung von Kunst und Kultur für eine offene Gesellschaft sprechen. Was verstehen Sie unter einer offenen Gesellschaft? Sobotka: Bei den Wiener Philharmonikern oder dem Israel Philharmonic kommen die Musiker aus allen Ländern, von fast allen Kontinenten. Das zeigt, dass Kunst und Musik dazu beitragen können, den Austausch von unterschiedlichen Kulturen zu fördern. Die Schwelle des gegenseitigen Verstehens ist in diesen Bereichen viel niedriger. Mehta: Ja, die Philharmoniker haben jetzt ein paar Ausländer. Aber als ich hier studierte, galt schon ein Musiker aus Salzburg als fremd. Mein Kontrabassprofessor sagte zu mir über einen Kollegen: „Er ist nicht einer von uns. Er ist aus Salzburg.“
Eine offene Gesellschaft ist dort, wo Menschen aus allen Ländern klassische Musik spielen? Wir haben jetzt viele Flüchtlinge und Migranten hier 19– sollen auch deren Musiktraditionen gefördert werden? Sobotka: Was die Balkanländer betrifft, hat man in der Flüchtlingskrise der 1990er-Jahre in manchen Musikschulen etwas getan. Ich glaube, Integration funktioniert am ehesten über die kulturelle Ebene. Zum Beispiel habe ich erlebt, dass man Asylbewerbern zeigt, wie bei uns Pflanzen gezogen werden – komplett anders als in Syrien. Großartige Erfahrungen habe ich mit dem Austausch über das Essen, gemeinsamem Kochen gemacht. Und natürlich kann musikalisch viel Völkerverständigung geschehen, noch bevor das erste Wort gesprochen ist.
Herr Mehta, Sie fördern die musikalische Ausbildung arabischer Israelis. Wie geht es da voran? Mehta: Mein Traum ist es, einen arabischen Israeli im Orchester zu haben. Wir haben eine Stiftung in Nazareth und einer weiteren Stadt, wo über 250 junge Araber mit arabischen Professoren studieren. Unsere Philharmoniker gehen alle zwei Wochen hin, um zu kontrollieren, wie der Unterricht läuft. Und an der Buchmann-Mehta-Schule in Tel Aviv habe ich schon zehn Araber.
Bis heute gibt es keinen arabischen Israeli im Israel Philharmonic Orchestra? Mehta: Keinen. Es ist ein bisschen wie in Amerika, wo lange keine Schwarzen spielten. In Los Angeles habe ich in den Sechzigerjahren ein Minderheitentraining organisiert, die jungen Leute konnten sich damals nicht einmal den Bus zum Unterricht leisten. Nach zehn Jahren hatten wir einen schwarzen Fagottisten im San Francisco Orchestra, und so weiter. Dann habe ich gemerkt, dass das New York Philharmonic Orchestra nie in Harlem gespielt hatte. Also habe ich einen Priester der riesigen Abyssinian Baptist Church gefragt, ob wir in der Kirche spielen könnten. Leontyne Price hat davon gehört und mich angerufen: „Du kannst nicht ohne mich in dieser Kirche spielen!“Sie ist gekommen, hat gesungen. Danach haben wir jedes Jahr dort gespielt.
Liegt es einzig und allein an der Qualität der Musiker, dass noch kein arabischer Israeli in Ihrem Orchester spielt? Mehta: Ja, unsere Probespiele finden hinter dem Vorhang statt, und Araber sind bisher gar nicht einmal hingekommen, es fehlte an der Ausbildung. Aber in ein oder zwei Jahren, glaube ich, wird es so weit sein. Die zehn, die jetzt bei uns studieren, sind talentiert. Ich habe israelische Musiker, die freiwillig nach Ramallah gehen wollen, um dort zu unterrichten. Aber ein Israeli darf nicht nach Ramallah! Klassische Musik hat auch in Diktaturen geblüht. Und ihr Publikum ist ein internationales, aber trotzdem recht geschlossenes. Nochmals, wie soll dieser Musikbetrieb eine freiere Gesellschaft fördern? Sobotka: Ich glaube, er lässt sich für ein neues Publikum öffnen. In Linz etwa hat man im Stahlwerk Konzerte veranstaltet. Aber vor allem ist es eine Erziehungsfrage. Ich halte die Sensibilisierung von acht, zehn, zwölf Jahre alten Schülern für entscheidend, dafür, wie feinnervig vor allem klassische Musik sein kann, wie viele Klangfarben möglich sind, die man in der Popmusik nicht kennt, und vor allem, wie sehr man darin Emotionen verarbeiten kann. Mehta: Mit den New York Philharmonics spielen wir im Sommer in Parks, im Central Park haben wir bis zu 300.000 Zuhörer. Das ist unser künftiges Publikum. Ich habe auch öfters mit dem Los Angeles Philharmonic Orchestra vor Häftlingen gespielt, die waren so enthusiastisch. Einer hat gerufen: „Spielen Sie die ,blaue Donau‘!“Ich habe geantwortet, wir hätten die Noten mit, aber nächstes Mal – darauf er: „Nächstes Mal bin ich nicht mehr hier !“
Richard Wagner ist in Israel immer noch ein heikles Thema, Herr Mehta. Werden Sie die Zeit erleben, dass seine Musik unbefangen gespielt wird? Mehta: Ich verlasse Israel 2019, werde das also nicht mehr erleben. Aber Sie müssen wissen, dass das keine Regierungslinie ist, israelische staatliche Radios spielen seit eh und je Wagner. Das ist nur eine Tradition im Orchester. Ich und Daniel (Barenboim, Anm. d. Red.) haben beide versucht, trotzdem Wagner zu spielen, das Publikum hat es auch akzeptiert. Bei einer Umfrage in unseren Abonnentenkreisen haben 86 Prozent gesagt, sie wollten Wagner hören. Es wagt einfach nur niemand, dieses Tabu zu beenden.
Die ÖVP bildet eine Regierung mit der FPÖ, Herr Mehta. Zu deren Politikern hat die israelische Regierung bis vor wenigen Wochen offizielle Kontakte verweigert. Könnten Ihre Orchestermusiker nicht irritiert auf dieses Interview reagieren? Mehta: Nein, das ist bei uns überhaupt kein Thema. Niemand diskutiert das. Wir wissen auch nichts Genaues über diese Koalition.
Ihre Orchestermusiker interessieren sich nicht für österreichische Politik? Mehta: Nein, nicht in diesem Sinn! Wir waren hier immer willkommen.
Wir haben jetzt eine Kulturministerin, die war noch kein einziges Mal im Konzert. Mehta über Miriam Regev, Israels Kulturministerin. Acht- bis Zwölfjährige zu sensibilisieren, vor allem dafür, wie man Emotionen in der Musik verarbeiten kann – das halte ich für entscheidend. Sobotka über die Zukunft der klassischen Musik.