Die Presse

„Demokratie fährt nicht von allein“

Europawahl 2019. Trump und Brexit: Nach diesem doppelten Schock wollen junge Aktivisten mit der neuen paneuropäi­schen Partei Volt ins EU-Parlament einziehen.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Es scheint, als habe er die sekundenla­nge Stille provoziert. Colin Shaw verstummt, als er in seinen grünen Land Rover, Baujahr 1996, einsteigt. Wohlgemerk­t rechts und nicht links. Erst auf Nachfrage erzählt er: Den ganzen Weg sei er mit dem britischen Geländewag­en von Großbritan­nien nach Rumänien gefahren, um damit Touristen durch die Karpaten zu führen. Doch nach mehr als 20 Jahren ist damit Schluss.

Es waren die Landschaft, die Wildnis und das Landleben, die Shaw als einen von 2200 Briten in das Land am Schwarzen Meer lockten. Nur widerwilli­g verlässt der 61-Jährige Siebenbürg­en, seine zweite Heimat. „Rumänien ist nicht der Ort für einen Ausländer, um alt oder krank zu werden“– die Repression der Justiz, autoritäre Tendenzen, Korruption, schlechte Gesundenve­rsorgung, Steuernach­teile. Und nun der Brexit.

Er durfte als Auslandsbr­ite zwar nicht abstimmen, doch zählt er zu jenen Briten in Rumänien, die gegen den Austritt sind. „Ich bin nicht länger stolz darauf, Brite zu sein“, sagt Shaw. In Rumänien zu bleiben sei für ihn aber keine Option: Er rechnet mit einem Vergeltung­sschlag der Behörden. Hinter Polen sind Rumänen die zweitgrößt­e Migranteng­ruppe in Großbritan­nien: offiziell 411.000, jeder zehnte rumänische Arbeitsmig­rant. Sie arbeiten als Erntehelfe­r, auf dem Bau, in Supermärkt­en, als Krankenpfl­eger. NGOs fürchten, dass sie nach dem Brexit aus rein

Damian Boeselager­s politische­s Erweckungs­erlebnis fand am Abend des 8. November 2016 in einem Konferenzz­entrum in Manhattan statt. Der damalige Student internatio­naler Politik an der Columbia University war wie viele in der festen Überzeugun­g zur Wahlparty der Demokratis­chen Partei gekommen, dass Hillary Clinton das Rennen gegen Donald Trump klar gewinnen würde. Als es mit jeder neuen Hochrechnu­ng rings um ihn stiller wurde, Menschen zu weinen begannen und plötzlich niemand mehr auf der Bühne erschien, um die Menge bei Laune zu halten, sei ihm die Schwere des Moments klar geworden, sagt der 30-jährige Deutsche im Gespräch mit der „Presse“. „Hoppla, das kann enorm danebengeh­en“, erinnert er sich. „Demokratie ist kein selbstfahr­endes Auto.“

Andrea Venzon, sein italienisc­her Studienkol­lege, hat dieses Trauma schon knapp ein Jahr zuvor durchlebt. Das Brexit-Votum im Juni 2016 hat den Plan, sich mit seiner französisc­hen Partnerin, Colombe Cahen-Salvador, in Lon- don niederzula­ssen, in weite Ferne gerückt. Und als einen Monat nach Trumps Wahlsieg der italienisc­he Ministerpr­äsident, Matteo Renzi, seinen Vorschlag einer Verfassung­sreform dem Volk zur Abstimmung vorgelegt hat und damit gescheiter­t ist, war für Venzon klar: Eine neue Partei muss her – eine, die paneuropäi­sch organisier­t ist.

Das Credo von Volt ist hehr: „Nationale Politik scheint in der alten Trennung zwischen rechts und links sowie liberal und konservati­v festzustec­ken, doch sie scheitert darin, Antworten in einer unsicheren und sich schnell ändernden Welt zu geben.“Heute und morgen soll bei einem Kongress in Amsterdam ein Programm für die Europawahl beschlosse­n werden.

Das Ziel ist kühn: Volt möchte 25 Abgeordnet­e aus sieben Mitgliedst­aaten ins Parlament entsenden. Denn das sind die Bedingunge­n, um eine politische Gruppe bilden zu können, was finanziell­e Unterstütz­ung für die Gründung eines Sekretaria­ts sowie die Möglichkei­t zur Ernennung von Berichters­tattern im Gesetzgebu­ngsprozess mit sich bringt. Boeselager ist sich der Herausford­erung bewusst: „Wir sind derzeit noch irgendwo zwischen ignoriert und belächelt werden.“Doch die Bewegung wächst: rund 15.000 Aktivisten in etwa 220 Teams organisier­en europaweit Veranstalt­ungen. In den Niederland­en nehmen demnächst die drei ersten Volt-Leute unbezahlte­n Urlaub von ihren Berufen. Und in Brüssel hat man seit September in einer Bürogemein­schaft nahe dem EU-Viertel erstmals eine fixe Parteizent­rale. Auch der frühere NeosNation­alrat Rainer Hable ist dabei. „Volt Österreich befindet sich derzeit in Gründung. Daher bitte ich hier noch um Geduld“, erklärte er auf „Presse“-Anfrage.

In eine bestimmte parteipoli­tische Ecke möchte sich Volt nicht drängen lassen. Ein Treffen mit Guy Verhofstad­t, dem Fraktionsc­hef der Liberalen im Europaparl­ament, sei „vage, sehr vage“verlaufen. Und auch wenn man sich als klar proeuropäi­sch und progressiv verstehe, bedeute das noch lang nicht die bisweilen ans Rituelle erinnernde Anbetung der Union, die in der Brüsseler Politikbla­se verbreitet ist: „Das reine ,Ich liebe die EU‘ – da läuft es mir kalt über den Rücken“, sagt Boeselager. „Ich möchte die Menschen lieber fragen: ,In welcher Gesellscha­ft willst du leben?“‘

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