Ein bisschen mehr Ehrlichkeit, ein bisschen mehr Zivilcourage
Die Mär von den Politikern, die den Menschen wieder mehr „zuhören“wollen, ist der neueste Hit. Doch allzu oft wollen die Bürger gar nicht die Wahrheit sagen.
Alexander Stubb, Finnlands ehemaliger Ministerpräsident mit Ambition auf den Posten des EU-Kommissionspräsidenten, sagt es; Sigmar Gabriel, Deutschlands ehemaliger Außenminister ohne Ambition auf weitere politische Ämter, sagt es; der Bundestagsvizepräsident von der FDP, Walter Kubicki, auch; und Österreichs Bundespräsident, Alexander Van der Bellen, sowieso, erst kürzlich wieder: Sie alle und noch viel mehr Politiker verwenden immer häufiger die banalste und zweifelhafteste aller politischen Phrasen, die mit dem Aufschwung des aggressiven Populismus eine Blütezeit erlebt. „Wir müssen den Menschen zuhören, wir müssen die Menschen anhören, wir müssen hinhören.“
Klingt gut, klingt auch nach Populismus, ist aber hohl, weil der zweite Teil der Gleichung eine Unbekannte ist. Wer sagt denn, dass das, was Politiker zu hören bekommen, wenn sie denn hin- und zuhören, auch wirklich dem entspricht, was die Menschen denken? Wer sagt denn, dass sie Politikern die Wahrheit sagen – und schon gar ins Gesicht?
„Wir müssen den Menschen zuhören“ist so ein Phrasenknüller, der signalisieren soll, die Politik werde sich ab sofort um die Sorgen des Bürgers kümmern. Was aber, wenn dieser zu feig ist, seine Sorgen ehrlich zu artikulieren? Was hören die Politiker dann? Eine überflüssige Frage? Mitnichten in einem Land wie Österreich, in dem die gepflegte Unaufrichtigkeit zu den feinsten Instrumentarien der Karriereförderung gehört.
Journalismus ist Wiederholung, daher wieder ein österreichisches Schauspiel in drei Akten: 1. Bei dem Besuch eines Lokals übertrifft sich das Personal an Unterwürfigkeit einem Politiker gegenüber. Wie man sich freue, ihn wieder zu sehen. Fünf Minuten später tönt es aus der Küche: „Jetzt ist der Trottel schon wieder da.“
2. Bei der Kärntner Landtagswahl 1989 verlor die SPÖ die absolute Mehrheit. Obwohl schon ausgeschieden, verstand Leopold Wagner (SPÖ) die Welt nicht mehr. Noch am Tag davor hatte er nur SPÖ-Wähler getroffen.
3. Eine ähnliche Fassungslosigkeit traf Heide Schmidt 1999, als das Liberale Forum (LIF) aus dem Parlament flog. Schmidt dürfte genau hingehört habe, als ihr die Menschen in den diversen Begegnungen versichert haben, ganz bestimmt das LIF zu wählen. Das Hinhören hat ihr höchstens eine herbe Enttäuschung gebracht.
Das mit dem Hin- und Zuhören funktioniert nur mit Ehrlichkeit und Zivilcourage. Den gestrigen Nationalfeiertag hätten alle, die durch die offenen Türen zu Bundespräsident, Bundeskanzler und Co. strömten, für einen Selbsttest nutzen können. Wie stark ist das Rückgrat, wie groß das Selbstbewusstsein, um dem Gegenüber aus der politischen Elite – wozu auch die Vertreter der FPÖ gehören – ehrlich die Meinung zu sagen? Das Gegenüber muss ja nur zuhören. Das kostet nicht viel Zeit.
Man kann die Übung auch bei Zufallsbegegnungen ausführen oder via Schreiben: Statt devotes Buckeln die aufrichtige Meinungsäußerung. Das würde mehr zu Glaubwürdigkeit in der Politik beitragen als die ständige Versicherung der Politiker, man höre zu.
Für den Wähler gilt Ähnliches. Das ständige Klagen darüber, dass Politiker den Menschen nicht zuhören, diese sich nicht „gehört“fühlen, ist nicht mehr als eine Schutzbehauptung. Damit ersparen sich die Menschen/Wähler das Ungemach der Aufrichtigkeit, von der sie a priori annehmen, sie könnte zu ihrem Nachteil gereichen.
Es kommt nicht von ungefähr, dass bei einer Umfrage etwa zwei Drittel der Österreicher angegeben haben, sie befürchteten berufliche und persönliche Nachteile, wenn sie ihre Meinung äußern: Der Karrieresprung da, der Auftrag dort, die Protektion für einen Verwandten anderswo. Die Gründe sind vielfältig.
Also verschont uns bitte mit allen Bekenntnissen zu und Forderungen nach Hin- und Anhören, wenn der Mut zur Ehrlichkeit fehlt. Auf beiden Seiten.