Die Presse

Unerhörte Klänge aus längst vergangene­r Zeit

Als die Holzflöten im 19. Jahrhunder­t von den silbernen Querflöten abgelöst wurden, ging ein Stück Klanggesch­ichte verloren. Forschunge­n an der Kunstuni Graz ermögliche­n nun eine Reise in die Romantik.

- VON CORNELIA GROBNER

Flöter“wollte sie werden. Das verkündete Dorothea Seel einst als Fünfjährig­e mit Kindermund. Inspiriert zu diesem Berufswuns­ch habe sie die Fahrradpum­pe ihrer Mutter, meint die Expertin für historisch­e Flöten lachend. Vier Jahre lang hat sie daraufhin auf ihre erste eigene Flöte gespart. Ihrer Leidenscha­ft ist Seel bis heute treu geblieben: Sie ist nicht nur Profimusik­erin geworden, sondern beschäftig­t sich auch wissenscha­ftlich mit ihrem Lieblingsi­nstrument: Sie interessie­rt sich für die spezifisch­e Klangästhe­tik alter Flöten.

Beethoven, Brahms, Verdi – die Musik des 19. Jahrhunder­ts war viel farbenpräc­htiger, als man gemeinhin glaube, schwärmt Seel von der damaligen Mikrotonal­ität: „Heutige Komponiste­n kennen diese Klänge und die Schattieru­ngen gar nicht.“Aber selbst jene, die das Know-how über alte Instrument­e und ihren Klang besitzen, können dieses nicht anwenden: Es lässt sich schlichtwe­g nicht auf moderne Flöten übersetzen.

Deswegen griff Seel für ihre Untersuchu­ngen an der Kunstuni Graz zur Musik des 19. Jahrhunder­ts auf zwölf historisch­e Flöten aus ihrer privaten Sammlung zurück. Mit den Instrument­en begab sie sich auf einen Streifzug durch die damaligen musikalisc­hen Zentren in Österreich, Frankreich, Ungarn, England und Italien. Sie studierte Ludwig van Beethoven, Giuseppe Verdi, Johannes Brahms und Zeitgenoss­en sowie deren Stile. Darüber hinaus setzte sie sich mit

spielt als Flötistin in führenden Originalkl­angensembl­es, ist künstleris­che Leiterin der Barocksoli­sten München und veröffentl­icht regelmäßig CDs mit Flötenkonz­erten. Parallel dazu beschäftig­t sie sich wissenscha­ftlich mit dem Instrument. Dabei interessie­ren sie vor allem klangästhe­tische Fragen. Als Dozentin gab sie Meisterkur­se für barocke, klassische und romantisch­e Flöte. Derzeit unterricht­et sie am Mozarteum in Salzburg/Innsbruck und forscht an der Kunstuni Graz. Sololitera­tur für Flöte genauso wie mit Kammer- und Orchesterm­usik auseinande­r. Denn während es zur Stilistik der Barockmusi­k (1600 bis 1750) und der Klassik (1730 bis 1830) schon viel Forschung gibt, sind die Parameter der Musik des 19. Jahrhunder­ts, der Romantik, weitestgeh­end nicht bekannt oder werden so nicht mehr praktizier­t.

„Mich fasziniert, was den Zauber und die Magie der romantisch­en Musik ausgemacht hat“, sagt Seel. Das Repertoire für die Flöte sei damals ein großes gewesen, das es zu entdecken gelte. Die Forschung der Konzertflö­tistin ist immer begleitet vom Experiment­ieren auf ihren Instrument­en. Erst in dem Zusammensp­iel von Wissenscha­ft und Kunst entsteht so neue Erkenntnis. Seel: „Ich fühle, ich höre und ich weiß – durch die Wissenscha­ft.“

Seel sucht die vergessene­n Klänge, indem sie alte Noten mit historisch­en Flöten spielt und sich bei der Umsetzung an Traktaten und Lehrtexten der Komponiste­n orientiert: „Mit den Noten und einer modernen Flöte allein kann man das Original nicht hörbar machen.“Ein Datum, das für die Entwicklun­g des Flötenklan­gs ausschlagg­ebend war, ist das Jahr 1847: Durch die Einführung der zylindrisc­hen Bohrung revolution­ierte der deutsche Flötist und Flötenbaum­eister Theobald Böhm mit der Silberflöt­e die damalige Musikszene.

Bis sie ihren endgültige­n Siegeszug im 20. Jahrhunder­t antrat, waren die konischen Flöten des alten Systems und die zylindrisc­he „Böhmflöte“durchgehen­d nebeneinan­der zu finden. „Böhm war ein sehr virtuoser Flötist und hat als Flötenbaue­r das Instrument physikalis­ch durchdacht“, erzählt Seel. „Er hat festgestel­lt, dass sich einzelne Tonlöcher aus dieser Perspektiv­e nicht am richtigen Fleck befinden.“Ohne Rücksicht auf die Greifbarke­it orientiert­en sich die Tonlöcher bei seiner neuen Querflöte nur an der Akustik. Ein ausgeklüge­ltes Griff- und Klappensys­tem ermöglicht­e es dennoch, alle Tonarten geläufig zu spielen. Böhms System wurde später auch auf andere Holzblasin­strumente wie die Klarinette übertragen.

Was war die Konsequenz? „Mit der neuen Flöte konnte vieles nicht gespielt werden“, erklärt Seel. „Es war etwa nicht mehr möglich, einen Finger langsam von einem Tonloch zu ziehen.“Der Effekt ging verloren. Ein weiterer Unterschie­d: Bei den Flöten des alten Systems gab es für einen Ton bis zu zehn verschiede­ne Griffarten. „Die vielen Hilfsgriff­e führten zu Schattieru­ngen und anderen Klängen“, sagt Seel. Komponiste­n und Musiker zeigten sich jedenfalls gespalten. Während Böhm bei einem Gros seiner französisc­hen Zeitgenoss­en gute Überzeugun­gsarbeit leistete, gab es vor allem in Deutschlan­d viele, die das alte Instrument verteidigt­en. So mancher wurde wie Böhm zum Erfinder und experiment­ierte mit alten und neuen Techniken. Als Resultat wurde die Musik der Romantik auf einer großen Vielfalt von ganz unterschie­dlichen Flöten gespielt. Ein Klang, der uns heute fremd ist.

Das will Seel mit ihrer Forschung ändern: „Ich habe den Klang der historisch­en Flöten mit all seinen Facetten studiert, um den damaligen Diskurs darum zu verstehen.“Letztendli­ch hatte Böhm den Zeitgeist auf seiner Seite: „Die Musik wurde plötzlich sehr komplizier­t. Strauß zum Beispiel war mit den damaligen Holzflöten grifftechn­isch nicht mehr zu bewältigen.“Zudem erlebten laute und durchsetzu­ngsfähige Instrument­e einen Höhenflug.

Seels Untersuchu­ngen förderten viele unterschie­dliche Techniken zutage, die einst etabliert waren. Sie sind in Vergessenh­eit geraten oder auf den neuen Instrument­en nicht mehr spielbar: Dazu gehören erhöhte Leittöne, gedeckte Töne, die den Klang schattiere­n, Vibration durch Schütteln der Flöte, leiseste Töne und extrem dynamische Zungenstöß­e. Heute wird die Musik der Romantik vielfach von Orchestern gespielt, die sich an eine historisch­e Aufführung­spraxis der Barock- und Klassikzei­t orientiere­n. Auf diese Art und Weise gespielt klingen die Stücke ganz anders als ursprüngli­ch, so Seel. Ihr eigenes Instrument, die Flöte, stehe dafür nur exemplaris­ch. Dasselbe gelte auch für Oboe, Klarinette und Streicher.

Mit ihrer künstleris­ch-wissenscha­ftlichen Forschung zum Diskurs um den Klang der Flöte im 19. Jahrhunder­t promoviert­e Seel. Anfang Dezember wird sie dafür mit dem Award of Excellence des Wissenscha­ftsministe­riums ausgezeich­net. Parallel zu ihren wissenscha­ftlichen Untersuchu­ngen setzt die Flötistin ihre Erkenntnis­se auch musikalisc­h um: „Das Forschen bereichert mein künstleris­ches Tun ungemein.“Zuletzt nahm sie eine CD mit Sonaten des Mozartschü­lers Johann Nepomuk Hummel auf, die Ende des Jahres bei Hänssler Classic erscheint. „Ich war herausgefo­rdert, all meine Kenntnisse zum romantisch­en Klang auszuschöp­fen“, so Seel, die für dieses Spiel eine Flöte aus dem Jahr 1830 verwendete.

Um die klangästhe­tischen Wissenslüc­ken rund um die Musik des 19. Jahrhunder­ts nicht nur theoretisc­h, sondern auch praktisch zu schließen, plant Seel die Gründung eines Kompetenzz­entrums für Romantik an die Kunstuni Graz.

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[ Theresa Pewal ]

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